Linksfraktion kompakt: Nach dem Urteil – Wie weiter mit dem Thema Parität?

Das rot-rot-grüne Paritätsgesetz, mit dem die gleichberechtigte Teilhabe von Männern und Frauen im Thüringer Landtag erreicht werden sollte, ist vor dem Verfassungsgerichtshof mit sechs zu drei Stimmen für nichtig erklärt worden. Wie geht es nun weiter? In einem »Linksfraktion kompakt« fassen wir unsere Bewertung der juristischen Unwägbarkeiten und Risiken zusammen und stellen dar, warum es für den weiteren Umgang mit dem Urteil zum Paritätsgesetz sinnvoller ist, den politischen Weg zu nutzen.
 

Ausgangslage

 

1. Mehrheitsmeinung

Die entscheidende Kernaussage des Mehrheits-Urteils des Thüringer Verfassungsgerichtshofs (ThürVerfGH) vom 15. Juli 2020 (Az.: VerfGH 2/20) zu den Paritätsregelungen im Thüringer Landeswahlgesetz lautet: Das Gleichstellungsgebot aus Art. 2 Abs. 2 ThürVerf sei nicht Teil des Demokratieprinzips und auch nicht ausdrücklich in Art. 2 Abs. 2 genannt; es könne daher die Prinzipien der formalen Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien bei der Listenaufstellung nicht wirksam einschränken. Das Gleichstellungsgebot aus Art. 2 Abs. 2 wird von der Mehrheitsmeinung als Staatsziel bezeichnet, das die »grundrechtsgleichen« Rechte, wie etwa die Chancengleichheit bei der Wahl nicht beeinträchtigen dürfe.

 

2. Minderheitenmeinung

Die beiden Sondervoten von Richterin Heßelmann sowie den Richter*innen Licht und Petermann vertreten die Gegenmeinung. Aus dem Gleichstellungsgebot ergibt sich für den Landesgesetzgeber das Recht, ja sogar die Pflicht mit Paritätsregelungen die Unterrepräsentanz von Frauen in Parlamenten zu beseitigen. Richterin Heßelman weist darauf hin, dass das Gleichstellungsgebot sehr wohl Teil des Demokratieprinzips ist, da es auch das »Prinzip der integrativen und angemessenen Repräsentanz« beinhaltet – hier von Frauen als gesellschaftlicher Gruppe. Der Verwirklichung dieser Repräsentanz dienen Wahlen und die Zusammensetzung von Parlamenten. Die Sondervoten widersprechen auch der Behauptung der Mehrheitsmeinung, das Gleichstellungsgebot sei „nur“ ein Staatsziel. Die drei Richter*innen verweisen dazu auf die langjährige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs. Der Grundsatzentscheidung des Letzteren sind das Gleichstellungsgebot in der Thüringer Verfassung und die inhaltlich vergleichbare Regelung im Grundgesetz nachgebildet. Beide Gerichte definieren die Pflicht zu aktiven Gleichstellungsmaßnahmen des Staates als Teil des Gleichheitsgrundrechts. Deshalb muss diese Pflicht auch im Rahmen der praktischen Ausgestaltung des Demokratieprinzips und bei Wahlen beachtet werden. Heßelmann fordert eine ausreichende Übergangszeit beim Inkrafttreten der Paritätsnormen, um Parteien mit wenig Frauenanteil genügend Zeit zu geben, Frauen in ihre Reihen aufnehmen zu können bzw. mit diesem Prozess beginnen zu können.

 

3. Folgen für die gesetzlichen Regelungen

Durch die Mehrheitsentscheidung von 6 zu 3 Stimmen im Richter*innen-Kollegium der ThürVerfGH wurden die Paritätsregelungen im Thüringer Landeswahlgesetz für mit der Verfassung unvereinbar und nichtig, das heißt ab Urteilsverkündung nicht mehr anwendbar erklärt. Die kommende Landtagswahl (für den 25. April 2021 geplant) wird ohne gesetzliche Parität der Landeslisten stattfinden.

 

Zu den Möglichkeiten des Umgangs mit dem Paritäts-Urteil

 

1. Juristisch

a) Eine Verfassungsbeschwerde können Fraktionen oder Landesregierungen gegen Urteile von Landesverfassungsgerichten nicht einlegen. Sie sind nicht »grundrechtsfähig«, auch nicht mit Blick auf Wahlrechte. In bestimmten Fällen können dies aber natürliche und juristische Personen tun, die »grundrechtsfähig« sind. Einreicher*innen einer Verfassungsbeschwerde müssen dann selbst durch das Urteil in ihren Grundrechten betroffen sein. Dass das durch eine monierte falsche Auslegung von Grundgesetznormen durch ein Landesverfassungsgericht als solches schon erfüllt ist, wird eher verneint. Zu berücksichtigen ist auch: Die inhaltliche Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts gegenüber den Landesverfassungsgerichten und zum Landes(verfassungs)recht ist nach dem Prozessrecht des BVerfG beschränkt. Denn die Verfassungsgerichtsbarkeiten von Bund und Ländern bestehen grundsätzlich selbständig nebeneinander.

 

Das gleiche gilt hinsichtlich der grundsätzlichen inhaltlichen Selbständigkeit von Grundgesetz und Landesverfassungen – mit einer Ausnahme. Die so genannte Homogenitätsklausel in Artikel 28 des Grundgesetzes soll sicherstellen, dass die elementaren Grundprinzipien des Grundgesetzes auch in den Ländern und deren Verfassungen sowie bei deren Verfassungsgerichten Geltung haben – soweit in den Landesverfassungen selbst noch keine entsprechenden Inhalte geregelt sind. Ein Beispiel: In der hessischen Verfassung – sie stammt ursprünglich aus der Zeit zwischen 1945 und 1949, also vor Inkrafttreten des Grundgesetzes - war lange Zeit noch die Todesstrafe als zulässige Strafart verankert Diese Verfassungsnorm wurde durch das Grundgesetz unwirksam, weil die Todesstrafe einen Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie aus Artikel 1 des Grundgesetzes darstellt. Soll heißen: Eine Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil eines Landesverfassungsgerichts ist nur zulässig, wenn die Kläger*innen nachvollziehbar argumentieren können, dass dieses Urteil sie selbst in ihren Grundrechten verletzen könnte. Bei Verletzung des passiven Wahlrechts (Stichwort: Landeslisten) müssten das eigentlich Personen sein, die kandidieren wollen. Gleichzeitig muss der monierte Verfassungsverstoß so gestaltet sein – hier die Frage der Parität –, dass wegen einer Lücke in der Landesverfassung auf die Herleitung aus dem Grundgesetz (Stichwort: Homogenitätsklausel) zurückgegriffen werden muss. Im Fall Parität ist ein Rückgriff auf das Grundgesetz aber nicht notwendig, weil auch in der Thüringer Verfassung in Artikel 2 Abs. 2 ein ausdrückliches Gleichstellungsgebot verankert ist.

Fazit: Das Bundesverfassungsgericht ist gerade keine über den Landesverfassungsgerichten stehende Korrekturinstanz, die falsche Auslegungen von Landesverfassungsgerichten einfach mal zurechtrücken könnte. Das macht es formal und inhaltlich schwierig sowie risikobeladen, gegen Urteile von Landesverfassungsgerichten, vor allem wenn sie sich auf Landesrecht beziehen, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Aber selbst wenn alle Hürden überwunden werden könnten hinsichtlich der formalen Zulässigkeit, bliebe zu berücksichtigen, dass Verfassungsbeschwerden vor dem Bundesverfassungsgericht meist viel länger dauern als ein Jahr.

 

b) Diese grundsätzliche Bewertung des Schwierigkeitsgrades von Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gilt auch für andere – theoretisch mögliche – Verfahrensarten. Theoretisch käme noch eine »andere öffentlich-rechtliche Streitigkeit innerhalb eines Landes« in Frage, die es grundsätzlich erlaubt, sie dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen. Im konkreten Fall wäre dies das Urteil des ThürVerfGH zum Paritätsgesetz. Die Verfahrens-Parteien wären hier der ThürVerfGH und der Thüringer Landtag als Gesetzgeber. Nach den für das Bundesverfassungsgericht geltenden Prozessregelungen könnte in diesem Fall nur der Landtag als Gesamtgremium mit Mehrheitsbeschluss einen Antrag zur Überprüfung des Thüringer Urteils zum Paritätsgesetz nach Karlsruhe bringen. Bei der inhaltlichen Überprüfung gelten dann – weil es um ein Landesgesetz geht und auch Vorschriften der Landesverfassung betroffen sind – die unter Buchstabe a) zur Verfassungsbeschwerde genannten Einschränkungen. Ein solches Verfahren wäre daher sehr schwierig und die Gefahr des Scheiterns für den Landtag sehr hoch. Ganz abgesehen von dem Problem, die notwendigen Mehrheiten für ein solches Vorgehen im Landtag zusammenzubekommen. Hinsichtlich der Zeitdauer gilt das zur Verfassungsbeschwerde Gesagte.

 

2. Politisch

Angesichts der genannten juristischen Unwägbarkeiten und Risiken ist es sinnvoller, für den weiteren Umgang mit dem Urteil zum Paritätsgesetz den politischen Weg zu nutzen. Zum einen um –  auch in intensiver außerparlamentarischer Netzwerkarbeit – für gesellschaftspolitische Mehrheiten zu arbeiten, die dann auch parlamentarische Mehrheiten für einen neuen Gesetzentwurf schaffen können. Es sollte jetzt schon mit der Arbeit an einem neuen Gesetzentwurf begonnen werden. Ansatzpunkte dazu sind nicht nur die Sondervoten (Stichwort Übergangsfrist), sondern auch die Argumentation der Gerichtsmehrheit im Paritätsurteil. Sie betont zum Beispiel, dass das Paritätsprinzip gar nicht ausdrücklich in der Verfassung genannt sei und man (auch) deshalb gegen die Paritätsregelungen entscheiden müsse. Das heißt aber im Gegenschluss auch, wenn die Parität in der Verfassung verankert wäre, sähe die Sache anders aus – nämlich pro Parität. Also ginge es um die Ergänzung des Verfassungstextes in Art. 2 Abs. 2. In einem neuen Gesetzentwurf müssten laut Mehrheitsmeinung auch Ausnahmeregelungen für reine Männer- und Frauenparteien enthalten sein. Bei der Erarbeitung eines neuen Gesetzentwurfs sollte man auch das Verfassungsgerichtsverfahren in Brandenburg zum dortigen Paritätsgesetz auswerten; ein Urteil ist für den 23. Oktober angekündigt.

 

Stand 24. August 2020

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