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Katharina Wischmeyer

Was bedeutet es, in dieser Gesellschaft Frau zu sein? Gleich der Einstieg in diesen Roman, der im Kontext der Corona-Pandemie steht, versetzt die Lesenden in einen Schockzustand: Helene, Mutter von drei Kindern, steht beim Abendessen auf, geht wortlos zum Balkon und stürzt sich in den Tod. Anders als erwartet findet keine Rückblende statt, was Helene zu dieser Verzweiflungstat gebracht hat, sondern der Fokus wird auf die Bewältigung des emotionalen Ausnahmezustandes und den schlichten Alltag mit drei Kindern und einem berufstätigen Vater gelenkt.

Im Zentrum der Erzählung stehen dabei Sarah, Helenes beste Freundin, die in die Rolle der Mutter schlüpft und Lola, die 15-jährige Tochter von Helene, die versucht, mit ihren Emotionen und besonders mit ihrer Wut umzugehen. Beide probieren, die Lücke, die die verstorbene Mutter hinterlassen hat zu schließen.
Spannend ist, dass in einem Erzählstrang die Autorin den Lesenden aufzeigt, was wirklich passiert, wenn eine Mutter fehlt, nicht nur in allen emotionalen Belangen, sondern auch in ihrer Funktion. Es wird deutlich, wie eng in unserer Gesellschaft Weiblichkeit, Kinderbetreuung und Care-Arbeit miteinander verknüpft sind. Der Vater der Familie wendet sich nach dem ersten Schock an die nächste weibliche Person in seinem Umfeld, um die Kinderbetreuung abzusichern, obwohl Sarah nicht einmal selbst Mutter ist und sich zuvor nie um Kinder gekümmert hat. Er, als Mann der Familie, hat das Gefühl für die finanzielle Stabilität sorgen zu müssen – das ist das, was die Gesellschaft den Männern zuschreibt. Damit werden in diesem Buch große gesellschaftliche Fragen aufgemacht: Warum fragt der Vater der Familie nicht einen Bruder, Onkel oder männlichen Freund, um die Kinderbetreuung abzusichern? Warum fühlt er sich als Vater eher der finanziellen Situation verpflichtet als der Care-Arbeit? Den Lesenden wird vor Augen geführt, dass er nicht zu Hause anwesend sein und gleichzeitig arbeiten gehen kann, weil Care-Arbeit nicht bezahlt wird.

Auf einer weiteren Ebene werden Lola und Sarah für verschiedene Generationen des Feminismus thematisiert. Während Sarah anfangs von sich aus das Gefühl hat, ganz gut zurecht zu kommen in dieser patriarchalen Welt und sich selbst beruflich als einigermaßen erfolgreich und unabhängig empfindet, legt Lola den Finger in die Wunde. Sie verweigert sich den traditionellen Rollenerwartungen und greift auch zu Gewalt, um sich zu wehren, wenn Frauen angegriffen werden. Damit wird auch die körperliche Überlegenheit von Männern diskutiert und anhand der Erzählung dekonstruiert. Die österreichische Autorin Mareike Fallwickl möchte „einen entlarvenden Blick auf unsere Gesellschaft werfen – ohne je den Sinn für Humor zu verlieren“, so steht es auf ihrer Website. Weiter heißt es: „Im Fokus dabei: feministische, queere und diverse Themen. Denn ich bin überzeugt, dass die Zeit reif ist für bisher ungehörte Stimmen. Gemeinsam sind wir laut.“ Mit diesem Roman ist Fallwickl das auf jeden Fall gelungen.

Starren Statistiken, die die Effekte von Ungleichheit der Geschlechter aufzeigen, aber im Alltäglichen nicht sichtbar werden, gibt dieses Buch (den Problemen) ein Gesicht. Viele Fragen bleiben für die Lesenden offen: Wie kann im Privaten die Gesellschaft und die Politik dafür sorgen, dass Care-Arbeit nicht nur auf Frauen lastet? Wie kann Care-Arbeit als Wirtschaftsfaktor anerkannt werden? Sicher ist, dass Maßnahmen in diesem Bereich alle entlasten und endlich längst überfällige gesellschaftspolitische Herausforderungen angegangen werden würden.  

Katharina Wischmeyer, Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Tourismus, Wirtschaft, Wissenschaft und digitale Gesellschaft

 

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