Arbeits- und Fachkräfte gewinnen: Wie kann das in Thüringen gelingen?

Bodo Ramelow, Lena Saniye Güngör

Wer zu später Stunde am 3. Februar im Plenarsaal oder über den Livestream Bodo Ramelow bei seinen Ausführungen zum Haushalt 2022 lauschte, erlebte eine emotionale Rede des Ministerpräsidenten zu verschiedensten Zukunftsthemen. Dazu gehört auch der Fachkräftemangel in Thüringen. „Wir werden darüber reden müssen, wie wir Fachkräftegewinnung und auch deren Bindung organisieren. Zurzeit sind einfach nicht genügend Fachkräfte hier. Nicht weil wir sie nicht binden wollen, sondern weil sie schlichtweg nicht da sind“, erklärte Ramelow vor dem Hintergrund der anstehenden Herausforderungen.


Deutschland ist auf Zuwanderung angewiesen. Etwa 400.000 Menschen pro Jahr werden gebraucht, um den Bedarf an Arbeits- und Fachkräften zu decken. Laut IAB-Betriebspanel ist der Bedarf an Fachkräften etwas zurückgegangen, trotzdem suchten Thüringer Unternehmen im Jahr 2020 2,7 Fachkräfte je Betrieb. Die durchschnittliche Vakanzzeit, also die Dauer zwischen dem gewünschten Besetzungstermin einer Stelle und ihrer erfolgreichen Neubesetzung, ist im Bundesdurchschnitt von 57 auf 124 Tage gestiegen. In Thüringen kann eine freie Stelle sogar erst im Schnitt nach 184 Tagen neu besetzt werden. Neben der Diskussion um Fachkräfte, ob in der Pflege oder in der Logistik, geht es auch um Arbeitskräfte beispielsweise in der Reinigung oder im Kurierdienst, die fehlen werden. Wie bereits angesprochen, stellt sich auch die Frage der Bindung an den Freistaat. Das heißt neben den Ausbildungsbedingungen in den einzelnen Berufen werden auch Themen wie gute Lebensbedingungen, also bezahlbare Mieten und eine attraktive Anbindung an den ÖPNV, eine zentrale Rolle spielen. Menschen, die hier arbeiten, müssen bleiben wollen und sich wohlfühlen. Thüringen sollte für sie zur Heimat werden. Wie kann also eine langfristige Arbeits- und Fachkräftestrategie aussehen und die Bindung an den Freistaat Thüringen gelingen?


Auf Anregen der arbeits- und gewerkschaftspolitischen Sprecherin Lena Saniye Güngör, haben sich die Abgeordneten der Linksfraktion deshalb in der Fraktionssitzung vom 9. Februar intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt. Eingeladen war unter anderem Prof. Dr. Michael Behr, Abteilungsleiter aus dem Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie um LINKE Abgeordnete und Mitarbeiter:innen für die Arbeits- und Fachkräftegewinnung zu sensibilisieren und zu diskutieren, welche Strategien und Lösungsmöglichkeiten denkbar wären. Durch die demografische Entwicklung zwischen 2005 und 2019 konnte die Arbeitslosigkeit nach der Wende bekämpft und viele Menschen in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen gebracht werden. Diese Zeit ist nun vorbei. Es gibt in Thüringen eine hohe Anzahl von Menschen, die kurz vor dem Renteneintrittsalter stehen. Auf 100 Renteneintritte kommen in den nächsten zehn Jahren 49 Nachwuchskräfte in der Altersgruppe von 15 bis 30 Jahren. Zuwanderung und Migration werden daher für den Freistaat in Zusammenhang mit einer gelebten Willkommenskultur, die Menschen die Möglichkeiten bietet sich zu entfalten und sich in die Gesellschaft einzubringen, unabdingbar sein. Das Arbeitsministerium hat bereits mit der Allianz für Berufsbildung und Fachkräfteentwicklung eine Strategie bis 2025 verabschiedet. Ziele sind, vor dem Hintergrund der Bewältigung der Corona-Pandemie, die Stärkung der Berufsausbildung, die Weiterbildung und Qualifizierung im Kontext des Strukturwandels und die Digitalisierung für die Fachkräfteentwicklung besser zu nutzen und die Chancen der Zuwanderung durch Anwerbung aus dem Ausland zu fördern und umzusetzen. Für die Gewerkschaftspolitikerin Güngör ist heute schon klar: „Ich werde mich besonders für gute Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen sowie eine höhere Tarifbindung in den Betrieben einsetzen. Als Standortfaktor im innerdeutschen Wettbewerb werden Kriterien rund um ‚Gute Arbeit‘ entscheidend sein, um Arbeits- und Fachkräfte für Thüringen zu gewinnen.“


Neben der Zuwanderung in den Freistaat könnten auch die Thüringer Hochschulen eine aktive Rolle bei der Vermittlung von internationalen Studierenden auf dem regionalen Arbeitsmarkt einnehmen. Viele junge Menschen aus dem Ausland sind gut ausgebildet und könnten den Thüringer Arbeitsmarkt mit ihrem Wissen und ihren Kompetenzen bereichern. Wie hier langfristig Klebeeffekte erzielt werden können, ist aber noch offen. Es ist bisher nicht ausreichend evaluiert worden, warum junge Menschen nach der Ausbildung den Freistaat verlassen und in andere Bundesländer abwandern. Sicher ist aber, dass mit dem Arbeits- und Fachkräftemangel eine neue Macht der Arbeiter:innen einhergeht. Laut NGG stiegen die Löhne in der sächsischen Gastronomie um fast 30 Prozent und auch die ostdeutsche Metallindustrie tendiert zur 35-Stunden Woche. Die Gewerkschaften in Ostdeutschland sind insgesamt optimistisch. Die demografischen Entwicklungen spielen ihnen in die Hände. Durch den Mangel an Arbeits- und Fachkräften, stimmen die Arbeitgeber Lohnerhöhungen schneller zu und versuchen ihr Personal zu halten. Besonders ländliche Gebiete dürften von diesen Entwicklungen profitieren.


Bodo Ramelow plädierte abschließend in seiner Rede zum Haushalt 2022 über die Parteigrenzen hinweg, die Ärmel hochzukrempeln und Politik in Thüringen zu gestalten. In diesem Sinne wird die LINKE Fraktion die Herausforderungen zur Arbeits- und Fachkräftegewinnung angehen. Die thematische Fraktionssitzung soll ein erster Auftakt gewesen sein, um sich dem Thema anzunähern und übergreifend in den Arbeitskreisen ganz konkret mit außerparlamentarischen Akteur:innen in den Austausch zu kommen. Da besonders die Bereiche Gesundheit und Pflege, die technischen Berufe sowie unternehmensnahe Dienstleistungen betroffen sind, gilt es Ideen und Konzepte besonders darauf auszurichten.
 

Katharina Wischmeyer, Referentin
für Wirtschaft und Wissenschaft


Abb.:

Die Wettbewerbsfähigkeit der Thüringer Wirtschaft hängt in hohem Maße von der Verfügbarkeit von qualifizierten Arbeitskräften ab. Als „qualifizierte Arbeitskräfte“ bzw. „Fachkräfte“ gelten im Rahmen der vorliegenden Befragung alle Arbeitskräfte, die auf Stellen eingesetzt werden, die nach Einschätzung der befragten Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber eine Berufsausbildung oder eine akademische Ausbildung voraussetzen. In Thüringen erfordern 82 % aller Arbeitsplätze eine entsprechende Qualifikation: 68 % setzen eine abgeschlossene berufliche Ausbildung, 14 % eine akademische Ausbildung voraus.

Entwicklung der Fachkräftenachfrage
Im ersten Halbjahr 2020 hatten – trotz der Corona-Krise – rund ein Drittel der Thüringer Betriebe einen Fachkräftebedarf zu verzeichnen, d.h. sie hatten in diesem Zeitraum Stellen auf qualifiziertem Niveau zu besetzen. Im Vergleich zu den Vorjahren ist der Anteil von Betrieben mit Fachkräftebedarf jedoch deutlich zurückgegangen.

Quelle: IAB-Betriebspanel 2020, S. 38

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