08. Mai 2022: Kein Tag des Schweigens

Steffen Dittes

Der 8. Mai hat in jedem Jahr für viele Menschen sehr unterschiedliche Bedeutungen. In erster Linie ist der 8. Mai ein Tag des Erinnerns, ein Tag des Gedenkens an die Opfer des deutschen Faschismus und des Zweiten Weltkriegs. Dieser Tag erinnert auch an die Opfer, die die Alliierten Armeen erbracht haben, um die Welt vom Faschismus zu befreien. Der 8. Mai ist aber auch ein Tag, der uns in die Verantwortung setzt, dass wir uns mit unserer eigenen Geschichte auseinandersetzen und uns auch die Frage stellen: Wie konnte in einer Gesellschaft ein derartig singuläres Verbrechen erwachsen?

Und eben nicht den Widerstand in der gesamten Breite der Gesellschaft hervorrufen? Und das stellt uns auch die Frage nach unserer heutigen Verantwortung, alles dafür zu tun, dass sich solche Verbrechen nicht noch einmal wiederholen. Der 8. Mai ist aber auch für viele Menschen, insbesondere für die junge Generation, ein Tag zum Feiern, weil dieser Tag der 8. Mai 1945 dokumentiert, dass die Welt vom Hitlerfaschismus befreit worden ist und dass es praktisch die Grundlage dafür dass sich Demokratie und Freiheit bei allen Widersprüchen in Europa entwickeln konnte.

Der Mehrdeutigkeit dieses Tages ging eine lange Zeit der Auseinandersetzung um die Bedeutung dieses Tages voraus. Es brauchte bis zum Jahr 1985, bis ein Bundespräsident erstmalig vom Tag der Befreiung reden konnte. Und er erntete damals auch noch sehr viel Widerspruch, auch aus der Breite der Gesellschaft heraus, weil man einen Tag der Niederlage nicht feiere. Und es braucht 15 weitere Jahre, bis ein Bundeskanzler dann schließlich feststellte, dass das doch selbstverständlich ist und keiner mehr in Frage stelle, dass der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung gewesen ist.

Der 8. Mai in diesem Jahr ist aber auch ein besonderer Tag, der uns zum Nachdenken bringt. Am 8. Mai 1945 haben sich viele geschworen, alles dafür zu tun, dass Krieg sich nie wieder wiederholen wird. Und wir erleben heute eine aus meiner Sicht besondere historische Tragik, dass diejenigen, die die Hauptlast zur Befreiung vom Faschismus getragen haben, und diejenigen, die die meisten Opfer im Zweiten Weltkrieg über sich ergehen lassen mussten, heute Kriegsverbrechen in der Ukraine begehen.

Wir müssen begreifen, dass die Sowjetunion, die Rote Armee, in der sehr viel mehr als nur Russen gekämpft haben und die Welt vom Faschismus befreit haben, nicht vergleichbar ist mit der Armee, die heute in der Ukraine völkerrechtswidrig einen Angriffskrieg führt. Und ich finde es eine besondere Verantwortung von uns, hier in der Bundesrepublik, den 8. Mai nach wie vor als das zu begehen, was er ist: ein Tag der Befreiung vom Faschismus.

Aber es ist eben auch ein Tag im Jahr 2022, der uns in die Verantwortung setzt, auch zu sagen, dass das, was die Häftlinge in Buchenwald bei deren Befreiung geschworen haben, für eine Welt sich einzusetzen, voller Frieden und Freiheit, nach wie vor Bestand hat. Und laut gesagt werden muss. In diesem Jahr ist der 8. Mai ein Tag des Erinnerns, aber auch ein Tag, an dem wir das Wort erheben, den Krieg zu beenden und Russland aufzufordern, sich aus der Ukraine zurückzuziehen.