Parlamentsreport 16-2023

Gegenseitig zuhören

Immer häufiger bekommt man die Auffassung zu hören, dass Politiker:innen den Kontakt zu den Menschen verloren haben. Bedient durch die Floskel von „denen da oben“ wird die Distanz zwischen Wählenden und Gewählten sehr bildhaft beschrieben. Und manche Menschen ernten Zustimmung beim Stammtisch, am Arbeitsplatz oder beim Familiengeburtstag, wenn sie behaupten, dass sich die Politik ohnehin nicht mehr um die „kleinen Leute“ kümmere. Diese Ansicht scheint sich zu halten, obwohl wir in Zeiten leben, in denen Abgeordnete, Minister:innen spontan und binnen Sekunden erreichbar sind und persönlich antworten. Und obwohl verstärkt Dialoge mit Bürger:innen, Haustürgespräche und Infostände stattfinden, bei denen Parteien mehr denn je in den Austausch treten.
Natürlich kennen Landtagsabgeordnete in Thüringen das „normale Leben“. Sie haben Freunde, Kinder, Großeltern und sind sich der gesellschaftlichen Herausforderungen in Bezug auf Inflation, Bildung, Gesundheit und Pflege bewusst. Gerade deshalb stellen sie sich diesen Herausforderungen. Doch es gibt eine Sache, die sie nicht können: die sich rapide verändernden und immer komplexeren Probleme in der Welt ignorieren. Damit geht zwangsläufig die Enttäuschung einher. Die Erwartungshaltung, dass alles so bleiben kann, wie es ist, ist zwar verständlich, kann aber der Realität nicht standhalten. Die Politik muss gestalten. Die notwendigen Vorschläge und Entscheidungen müssen erklärt werden. Dabei sollten Politiker:innen selbstverständlich zuhören und auf Sorgen und Ängste reagieren. Aber genauso sollten auch die Bürger:innen den politischen Verantwortungsträgern zuhören und wie diese Vor- und Nachteile sowie Ursache und Wirkung politischer Entscheidungen abwägen. Demokratie, politische Kultur und vor allem die Verantwortung, die Gesellschaft zu gestalten, gehen verloren, wenn Wählerinnen und Wähler nur noch das akzeptieren, was sie hören möchten, und politische Parteien ihnen nur noch das versprechen.
Steffen Dittes, Fraktionsvorsitzender

 

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