Religion kann Teil der Lösung sein – Gedanken zum Kirchentag in Dresden

Vor einigen Jahren habe ich einen Neujahrsempfang erlebt, der mir bis heute in Erinnerung geblieben ist. Die Thüringer LINKE hatte ihren Empfang in das Erfurter Augustinerkloster verlegt und die Hausherrin, Pröpstin Elfriede Begrich, hatte ein Grußwort zugesagt. Bis dahin schon ungewöhnlich, aber nicht spektakulär. Pröpstin Begrich ließ es sich aber nicht nehmen, in ihrer Rede Adolf Grimme, den Namensgeber des bekannten Fernsehpreises, mit einer fast schon vergessenen Textstelle zu zitieren: „Ein Sozialist kann Christ sein, ein Christ muss Sozialist sein“. Das saß.

Was in der Gegenwart große Verwunderung hervorruft, nämlich das Zusammendenken von sozialistischen und christlichen Werten, hat eine lange Tradition. Schon kurz nach der französischen Revolution und dem Beginn der Aufklärung sprachen sich christliche Denker dafür aus, dass der Glauben mit dem Einsatz für die Demokratie und die Republik verbunden werden müsse. Erwähnt sei der katholische Priester Félicité de Lamennais, der sich für seine revolutionären Schriften 1832 eine Rüge durch Papst Gregor XVI. einhandelte.
Und während Karl Marx 1844 in der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ seine bekannte Kritik an der Religion als „Opium des Volkes“ formulierte, arbeitete Wilhelm Weitling am „Evangelium der armen Sünder“. In dem 1845 veröffentlichten Text beschreibt Weitling den Zusammenhang von Ur-Christentum und Kommunismus und untermauert dies mit Bibel-Zitaten. So kommt er unter anderem zu der Aussage, Jesus lehre die Abschaffung des Eigentums. Im 20. Jahrhundert waren hierzulande Adolf Grimme und Dorothee Sölle vielleicht die bekanntesten religiösen Sozialisten, aber auch Martin Luther King muss in dieser Traditionslinie gesehen werden. Und nicht zuletzt sei auch auf das Ahlener Programm der CDU von 1947 verwiesen, in dem sich die Partei zum Ziel eines christlichen Sozialismus bekannte.

Als LINKER empfinde ich große Freude darüber, dass der Kirchentag nach Dresden kam und dieser kurze historische Abriss zeigt, dass ich mich in langer Tradition freue.  Seit der Wiedervereinigung war DIE?LINKE bzw. die PDS auf allen evangelischen Kirchentagen zu Gast und hat das Gespräch mit den Menschen gesucht. Der diesjährige Kirchentag stand unter der Losung „ … denn wo dein Schatz ist, da wird auch dein Herz sein“. Uns geht es darum zu zeigen, dass „Schätze“ der Gesellschaft – wie ein Leben in Würde und sozialer Sicherheit, intakte Umwelt, Arbeit, Bildung, Kultur – allen Menschen zugute kommen müssen. Darüber wollen wir sprechen. Die fünf Tage in Dresden können zu einem Zeichen gegen Atomkraft, gegen Rechtsextremismus, gegen Krieg werden – die Menschen haben es in der Hand. Wir wollen diesen Prozess nicht nur von außen beobachten.

Die Diskussionen, die wir in Dresden führten, drehten sich aber auch um die Rolle der Religion in der Gesellschaft. Es ist kein Geheimnis, dass sich die religiöse Landschaft in der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Als das Grundgesetz geschrieben wurde, waren über 90 Prozent der Adressaten Mitglieder der christlichen Kirchen. Inzwischen sind es durch die Wiedervereinigung und zahlreiche Kirchenaustritte gerade noch 60 Prozent. Zugleich ist der Islam mit rund drei Millionen Anhängern zur drittgrößten Glaubensgemeinschaft hinter den beiden christlichen Kirchen  herangewachsen, und die Zahl der Anhänger jüdischen Glaubens hat sich seit 1990 vervierfacht.

Nicht erst seit Thilo Sarrazins kruden Thesen wird gerade die Integration der Muslime häufig zum Problemfall erklärt. Ist der Glaube also ein Hinderungsgrund für das friedvolle Zusammenleben unserer Gesellschaft und die Religion Teil des großen Integrationsproblems? Das Gegenteil ist der Fall. Religion kann Teil der Lösung gesellschaftlicher Konflikte sein. Aber dazu müssen wir offene Fragen benennen und miteinander bereden: Wie steht es um die Gleichberechtigung der Religionsgemeinschaften gegenüber dem Staat, zum Beispiel in den Bereichen Religionsunterricht, theologische Ausbildung oder Seelsorge? Wie verhält sich der Staat zu innerreligiösen Belangen wie dem Arbeitsrecht? Was wird aus den besonderen Entscheidungs- und Finanzrechten der Kirchen, die wohl nicht mehr zeitgemäß sind?
Auch diese Fragen wollen wir im Dialog angehen, denn Religionspolitik muss zuallererst auf Kommunikation setzen. Wozu einseitige Regulierungsversuche des Staates führen können, haben viele Gläubige in der Vergangenheit leidvoll erfahren müssen. Zum Dialog gehört aber auch, Kritikwürdiges offen anzusprechen. In mehreren Glaubensrichtungen gibt es fundamentalistische Strömungen, die beispielsweise Homosexualität nicht tolerieren. Diese Homophobie nehmen wir nicht kommentarlos hin. Ebenso gibt es Strömungen, die eine Gleichstellung der Frau für falsch halten, weil sie in Rollenbildern verhaftet sind, die denen der Emanzipation widersprechen. Auch das verlangt Widerspruch, und den wollen wir nicht scheuen.

Videos der RLS-Berlin auf dem Kirchentag in Dresden 2011