Überlastungsproblem der Thüringer Sozialgerichte lösen - auch durch Änderungen des SGB II

Zum Antrag der Fraktion DIE LINKE - Drucksache 5/182 -

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Minister Dr. Poppenhäger, ich bedaure, dass der Beifall nicht so gravierend war für Ihre Ausführungen zu diesem wichtigen Thema.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe es versucht. Nein, die Zahlen waren wichtig, nicht zu viel, im Gegenteil; die Größenordnung dieser Zahlen, das ist ja das Erschreckende daran. Das werden wir noch mal in den einzelnen Beratungsgegenständen näher beleuchten. Insofern erst mal danke für Ihren Bericht. Das war ja sozusagen fast eine halbe Regierungserklärung zu diesem Sachverhalt,

(Beifall CDU)

aber natürlich auch geschuldet unserem Antrag, weil wir im Detail das gerne wissen wollten und auch weiter beraten müssen.

Gestatten Sie mir noch mal, auf einen Punkt zurückzukommen. Ich unterstelle gerne der Landesregierung, die Problemlage erkannt zu haben. Das haben Sie im Ausschuss mehrfach betont und - ich denke - heute an dieser Stelle auch wiederholt. Insofern darf ich Ihnen mitteilen, dass Sie auch die Unterstützung meiner Fraktion haben, ich sage mal, im Kampf um den Haushalt und der Position, die Sie hier aufgemacht haben hinsichtlich der Stärkung der Sozialgerichte. Die Kollegin, die vor Ihnen das Amt ausgeübt hat, weiß, um welche Notwendigkeit es hier geht. Insofern kann da vielleicht im Einvernehmen auch etwas passieren. Die Zahlen sprechen für sich.

Bei einem kann ich nicht ganz folgen, als Sie gesagt haben, es mangelt an dem politischen Willen. Ich denke, mit unseren Punkten 2 a und b haben wir genau auf diesen Sachverhalt hingewiesen, dass eben der politische Wille notwendig ist, für Veränderungen zu sorgen. Da reicht allein nur ein Blick auf die Empfehlung des Juristentages in Erfurt 2008. Da gab es ja die Frage zu diesem Sachverhalt und da gab es durchaus Empfehlungen in diese Richtung. Auch daran sollte man durchaus weiterarbeiten.

Aber Sie gestatten mir zur Thematik einen Exkurs, weil ja auch zahlreiche neue Kolleginnen und Kollegen hier im Haus sind, um noch mal in Erinnerung zu rufen, in die jüngste Geschichte zu dieser Frage. Ende 2004, meine Damen und Herren, gab es an den Thüringer Sozialgerichten schon über - und die Zahl will ich gerne betonen - 16.000 noch unerledigte Verfahren. Dann trat am 1. Januar 2005 das SGB II mit der Grundsicherung für Arbeitsuchende, besser bekannt als Hartz IV, in Kraft. Fachleute haben damals schon im Vorfeld vor einer Klagewelle an den Sozialgerichten gewarnt.

Der Verband der Thüringer Sozialgerichte forderte im September 2004 die Neueinstellung von 21 Richtern für die erste und zweite Instanz. Auf eine Mündliche Anfrage meiner Fraktion im Septemberplenum 2004 antwortete der damalige Justizminister - das war also noch der Vorgänger von Frau Walsmann - Herr Schliemann, CDU: "Derzeit sind solche Neueinstellungen nicht geplant, das Bundesrecht bietet keine verlässliche Planungsgrundlage." Doch bei einer schon bestehenden Bugwelle von 16.000 unerledigten Verfahren und deutlichen Warnungen von Fachleuten aus der Praxis war eine solche Untätigkeit schlicht grob fahrlässig. Bei 16.000 unerledigten Verfahren hätten im Jahr 2004 schon auch ohne drohende Hartz-IV-Klagewelle etwas getan werden müssen an den Thüringer Sozialgerichten, denn auch die Kläger in Rentensachen, Krankenversicherungsverfahren, bei Klagen wegen Pflege und Schwerbehinderungen haben Anspruch auf konkrete, auf zeitnahe Durchführung ihrer Verfahren. Bei solchen existenziellen Dingen heißt wirksame Rechtsdurchsetzung auch immer zügige Rechtsdurchsetzung.

Auch mit der durchschnittlichen Verfahrensdauer sah es laut Auskunft des Justizministers im September 2004 zum damaligen Zeitpunkt nicht rosig aus; über 16 Monate dauerte im Schnitt ein Verfahren in einer Instanz. Vor kurzem wurde nun ein Sozialgericht in Thüringen vom Bundesverfassungsgericht dafür gerügt, dass es in einer Krankenkassen- bzw. Vertragsarztangelegenheit nach über neun Jahren immer noch zu keinem Urteil gekommen ist, obwohl die Sache längst entschieden sein könnte. Sicherlich ein sehr drastischer Fall jenseits des Durchschnitts, aber doch auch symptomatisch. Im Rückblick zeigt sich, die Thüringer CDU-Landesregierung ist ab 2004 sehenden Auges und völlig unvorbereitet in das Hartz-IV-Chaos an den Sozialgerichten gegangen. Man hätte es wissen können, aber die Verantwortlichen wollten es ja lange nicht wissen und haben zu spät und halbherzig reagiert. Meine Fraktion nervte - ich darf auch den Ausdruck gebrauchen - weiter mit Selbstbefassungen im Justizausschuss, um so Fragen wie nach einem Notfallplan für die Sozialgerichte zu bearbeiten. Im Juni 2006 gab es auf Antrag meiner Fraktion zum ersten Mal eine Debatte zu den Sozialgerichten in Thüringen. In einer damaligen Berichterstattung teilte der Minister mit, dass im Jahr 2005 sich die Zahl der Richter bei den Sozialgerichten um acht erhöht habe. Durch die damalige Regierung wurde dann weiter mit freiwilligen Abordnungen bis zum heutigen Tag und Versetzungen versucht, die Situation in den Griff zu bekommen. Wir nervten weiter auch mit Anträgen zum Landeshaushalt in Sachen Aufstockung der Richterplanstellen an Sozialgerichten. Doch die Landesregierung agierte immer noch recht gebremst und blieb mit ihren Maßnahmen auch immer hinter den Hilferufen des Verbandes der Sozialrichter und anderer Praktiker zurück.

Mit den Auswirkungen dieser schuldhaften Unterlassungen hat die Sozialgerichtsbarkeit noch immer und in viel verschärfterer Form zu tun. Nun gibt es weit über 20.000 unerledigte Verfahren. Sie haben es präzisiert, Herr Minister, 23.000 habe ich jetzt gehört, dass die Tendenz weiter steigt - leider. Die eigentlichen Leidtragenden, das will ich an der Stelle betonen, sind nicht die Gerichte, es sind Menschen, die von Arbeitslosigkeit und sozialen Schwierigkeiten betroffen sind, Hartz IV beziehen müssen oder aber ihre eigentliche wohlverdiente Rente oder die ihnen zustehenden Krankenkassenleistungen hart erkämpfen müssen. Es sind Bürgerinnen und Bürger, die sich wegen Organisationsmängeln der Behörden, vor allem in dem Fall der ARGEn, wegen nicht bearbeiteter Anträge und falscher Bescheide an die Sozialgerichte wenden müssen, um ihr Recht nicht nur auf dem Papier zu haben, sondern es auch in der Realität des Alltages tatsächlich zu bekommen. Doch die betroffenen Menschen ließen sich nicht veräppeln und protestierten und klagten und klagen noch immer vor den Sozialgerichten, aber nicht, weil es ihnen Spaß macht, nein, es geht einfach und schlicht um ihre Existenz. Solche Verfahren wie das zurzeit laufende Verfahren am Bundesverfassungsgericht zur Überprüfung der Verfassungswidrigkeit der Regelsätze zeigen, die Betroffenen haben leider in vielen Fällen recht mit ihrer Einschätzung, dass sie und andere ungerecht und rechtswidrig behandelt werden. Leider brauchen sie oft einen ganz langen Atem, um zu ihrem Recht zu kommen. Sollte das Verfahren zu den Regelsätzen Erfolg haben, wäre amtlich bestätigt, Hartz IV ist Armut per Gesetz. Hartz IV verstößt gegen das Grundgesetz, Hartz IV ist eine Verletzung der Menschenwürde jedes Betroffenen, Hartz IV ist ein beschämendes Armutszeugnis für eine der reichsten Gesellschaften in den angeblich besten Rechts- und Sozialstaaten der Welt.

(Beifall DIE LINKE)

Es wurde schon bald nach Inkrafttreten des SGB II deutlich, meine Damen und Herren, es geht nicht nur um die Logistik an den Gerichten, die Probleme - und das hat der vorherige Tagesordnungspunkt gezeigt - liegen viel tiefern. Problematisch ist, dass die ARGEn grundsätzliche Bescheide nur für einen kurzen Zeitraum befristen. Das erhöht die Zahl der Widersprüche. Ein Problem ist, viele der Bescheide der ARGEn sind fehlerhaft. Daher haben die Klagen vergleichsweise hohe Erfolgsquoten. Durch die Organisationsprobleme der ARGEn als Zwitterwesen zwischen Bund und Kommunen hat es lange gedauert, bis die Arbeitsabläufe überhaupt richtig in die Gänge gekommen sind. Die Beschäftigten hatten wenig Zeit und Gelegenheit, sich in die neue komplexe Gesetzesmaterie einzuarbeiten. Sie hatten kaum Chancen auf Weiterbildung, weil Gesetzesänderungen ohne größere Übergangszeiten in Kraft getreten sind. Schon in der Debatte zu den Sozialgerichten im Jahr 2006 hat DIE LINKE darauf verwiesen, dass es handwerkliche Schwächen und unsoziale politische Entscheidungen im Recht als Klagen vor dem Sozialgericht wiederfinden. Deshalb muss an den rechtlichen Regelungen Hand angelegt werden. Der Gesetzgeber ist da gefordert.

Die CDU-Landesregierung wollte damals bis zum Schluss die Konsequenzen aus der Misere an den Sozialgerichten nicht ziehen. Auch die SPD-Fraktion zeigte sich in dieser Richtung verständlicherweise wenig lustvoll, denn die SPD ist die Erfinderin und Macherin von Hartz IV.

Nun hat die Konferenz - darauf sind Sie ja eingegangen, Herr Minister - der Justizministerinnen und Justizminister seit einiger Zeit das Thema "Entlastung und Effizienzsteigerung der Sozialgerichte" angenommen. Auf der Herbstkonferenz 2009 standen Empfehlungen einer Arbeitsgruppe zur Diskussion. Diese soll die Grundlage für gesetzliche Änderungen sein. Eine der wichtigsten Festlegungen: Ohne Änderung im SGB II ist die Situation an den Sozialgerichten nicht zu retten. Das Gutachten nennt auch die schon oben angesprochenen Problempunkte, dazu noch Kosten der Unterkunft und die Sanktionsbestimmungen. Allerdings nimmt das Gutachten richtigerweise eine Gesamtbetrachtung vor und macht auch Vorschläge für andere Themenfelder bei den Sozialgerichten, wie Krankenversicherung, wie Rente und Schwerbehinderung. Auch Empfehlungen für die Entscheidungstätigkeit der Sozialbehörden sind konsequenterweise in dem Bericht enthalten. Die Untersuchung macht auch Vorschläge zum Prozessrecht an den Sozialgerichten. Das, meine Damen und Herren, sieht wirklich nach der von Ihnen geforderten Rechtssicherheit und Rechtsklarheit aus. Bleibt die spannende Frage: Zu wessen Gunsten und mit welchen Folgen?

Schauen wir uns die Vorschläge zum Prozessrecht etwas genauer an, Stichwort - Reduzierung des gerichtlichen Prüfungsumfangs. Bei den Sozialgerichten gilt bisher der Grundsatz der umfassenden Amtsermittlung. Das Gericht hat den gesamten Sachverhalt hinsichtlich der Faktenlage und der rechtlichen Bewertung eigenständig in vollem Umfang zu prüfen. Nun sollen die Prozessparteien vereinbaren können, dass ein Fall nur noch teilweise gerichtlich überprüft wird. Klingt vordergründig nach Entlastung und Gleichberechtigung, aber in vielen Fällen agieren vor Sozialgerichten Betroffene ohne Anwalt. Sie können bei den komplexen Sachverhalten nicht immer selbst entscheiden, welche Punkte in ihrem speziellen Fall wirklich genauer geprüft werden müssen. Bei der hohen Fehlerquoten der ARGEn ist auch zweifelhaft, ob diese immer die richtigen Entscheidungen zur Begrenzung treffen würden. Außerdem folgt der Amtsermittlungsgrundsatz daraus, dass es sich bei sozialrechtlichen Entscheidungen um hohe Entscheidungen handelt, die in Rechte der Bürgerinnen und Bürger eingreifen. Das gilt selbst für den Fall, meine Damen und Herren, dass es um Leistungsgewährung geht. Dazu kommt, das Sozialgericht ist ein Rechtsgebiet mit existenziellsten Bedeutungen für die Betroffenen. Deshalb: Hände weg vom uneingeschränkten Amtsermittlungsgrundsatz. Eine versteckte Beschränkung des Rechtsschutzes kommt auch unter dem Stichwort finanzielle Anreize zur Vermeidung von überflüssigen Streitigkeiten daher. Damit ist die neue, eigentlich alte Idee der Einführung einer Gerichtsgebührenpauschale an Sozialgerichten gemeint. Zum einen muss man schon fragen, wer wann beurteilen soll, was ein überflüssiger Rechtsstreit ist. Bis zu den Entscheidungen des Bundessozialgerichts und des hessischen Landessozialgerichts, die SGB-II-Norm zu den Regelsätzen dem Bundesverfassungsgericht zur Überprüfung vorzulegen, galt das auch bei vielen Sozialgerichten als überflüssiger Rechtsstreit.

Auch in Thüringen bekamen Betroffene von ARGEn und Sozialgerichten signalisiert, die Regelsätze als verfassungswidrig zu monieren habe keinen Sinn und keine Aussicht auf Erfolg. Nun wird das Gericht in Karlsruhe - sie haben darauf abgehoben - voraussichtlich im Februar 2010 sein Urteil verkünden. Die Richter haben in der mündlichen Verhandlung sehr viele kritische Fragen zu den Regelsätzen gestellt. Der Weg zu den Gerichten und zum Recht darf für die Bürger nicht durch finanzielle Hürden versperrt sein. Gerade dann nicht, wenn es um die Sicherung der Existenz geht, wie bei den Sozialgerichten. Statt die Bürger von den Gerichten auszusperren, sollten sich Bundes- wie Landesgesetzgeber an die eigene Nase fassen und Gesetze machen, die inhaltlich gut sind, vor allem nicht unsozial und handwerklich korrekt.

Meine Damen und Herren, die Vorschriften sollten dabei klarer und verständlicher werden. Die Gesetze werden eigentlich nicht, das sage ich deutlich, für die Juristen gemacht, sondern für die Bürgerinnen und Bürger. Auch für die Regelung zur Prozesskostenhilfe und das Recht auf einen Anwalt für Sozialgerichtsverfahren sollte es keine Einschränkungen geben. Denn es ist jetzt schon für Betroffene oft schwierig, eine Anwaltsvertretung für das Verfahren zu organisieren. Die jetzigen PKH-Regelungen sind auch nicht ohne Hürden, wie Sie sicherlich wissen.

Meine Damen und Herren, der Thüringer Justizminister muss sich für Änderungen im Sozialrecht im Bundesrat stark machen, ohne Zweifel. Der Bericht an die Justizministerkonferenz enthält wichtigen Diskussionsstoff. Die aktuelle Situation an den Thüringer Sozialgerichten und der notwendige Handlungsbedarf auch mit Blick auf eigene Vorschläge aus Thüringen muss intensiv beraten werden im Ausschuss für Justiz, Bundes und Europaangelegenheiten federführend und in den Ausschüssen für Soziales, Arbeit und Wissenschaft mit beratend. Deshalb beantrage ich die Überweisung des vorliegenden Antrages meiner Fraktion. Es wäre auch, um einen Anreiz zu schaffen, meine Damen und Herren, sinnvoll, dazu eine öffentliche Anhörung zu unserem Antrag durchzuführen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall DIE LINKE)

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