Überlastungsproblem der Thüringer Sozialgerichte lösen - auch durch Änderungen des SGB II

Zum Antrag der Fraktion DIE LINKE - Drucksache 5/182 -

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, Frau Marx, ich hatte manchmal den Eindruck, an dieser Lage in den Sozialgerichten ist der Betroffene selbst schuld und dann der Rundungsfehler und mit der Gesetzgebung ist alles in Ordnung. Bei dem Letzten muss ich sagen, da kann ich von Ihnen auch nichts anderes erwarten, weil Sie vor fünf Jahren diese Gesetzgebung veranlasst und durchgesetzt haben. Was diesen Rundungsfehler betrifft - nur mal dieses Beispiel -, muss ich Ihnen sagen, auch einen Euro haben oder nicht haben für eine Bedarfsgemeinschaft, für einen Menschen, der in Hartz IV lebt, ist schon von großer Bedeutung. Das dann zu einer Ursache zu machen unter anderem für die Prozessflut und die Anwälte sind ja auch noch daran schuld, die sich dieser Sache annehmen - das ist ein bisschen leichtfertig und zu weit hergeholt. Letzten Endes die Sozialgerichte sind in dem Fall wichtige Schnittstellen zwischen dem Rechtsstaat auf der einen Seite und dem Sozialstaat auf der anderen Seite. Wenn etwas bei diesem Sozialstaat nicht stimmt, wenn er seine Aufgaben nicht mehr erfüllt, ist klar, dass das dann zulasten des Rechtsstaats geht.

Damit sind auch die Sozialgerichte Spiegel der sozialen Problemlage in diesem Land. Die hohe Zahl der Verfahren sind der Spiegel dafür, dass die soziale Problemlage in diesem Land zugenommen hat und das unter anderem mit der berühmten Agenda 2010. Je stärker die Reformwut gerade innerhalb dieser Agenda 2010 war, die Sozialgesetzgebung zu reformieren, zu verändern, zu verschlechtern, damit ist natürlich dann auch die Rechtsunsicherheit gewachsen und daraus resultierend kam dann die Verfahrenslage dazu.

Dabei muss ich allerdings sagen, wenn ich auf die Agenda 2010 komme, die betrifft ja nicht nur Hartz IV. Es gab ja auch noch andere Reformen in der Sozialgesetzgebung, die sich natürlich auch auswirken auf die Klageflut, die bei den Sozialgerichten liegt. Ich will hier weniger eingehen auf Probleme in der Grundsicherung nach SGB II, aber selbst bei Fragen der Eingliederungshilfe nach SGB IX gibt es genügend Klagen. Es gibt Klagen zum SGB V Krankenversicherungen. Auch innerhalb der Reformwut wurden natürlich auch Leistungen anderer Sozialversicherungssysteme angegangen. Ich nenne hier mal die Krankenversicherung. Es gab einen neuen Leistungskatalog. Leistungen wurden gestrichen, die bisher den Versicherten zustanden. Die Selbstzahlung wurde erhöht. Ich will nur mal ein Beispiel vom gestrigen Tag erläutern. Ich habe gestern erfahren aus meinem Heimatkreis, ein stark sehbehinderter Mann bekommt eine Behandlung zugebilligt über mehrere Tage, in wechselnden Abständen am Klinikum in Erfurt. Dazu muss er von seinem Dorf, 60 km von Erfurt entfernt, an diesen Tagen nach Erfurt kommen. Er selbst kann ja nicht fahren, stark sehbehindert. Der Antrag, dass er für diese Fahrten die Kosten erstattet bekommt, ist ihm von seiner Krankenkasse abgelehnt worden, obwohl chronisch kranken Menschen diese Leistung zusteht. Es ist abgelehnt worden. Was musste er machen? Er musste erst mal in Widerspruch gehen. Bis dieser Widerspruch bearbeitet ist und vielleicht abgelehnt ist, wenn er abgelehnt wird, gibt es dann die Klage. Das Problem ist, die Behandlung ist bis dahin schon vorbei. Das macht die Menschen unzufrieden und das kann nicht sein, weil es hier um menschliche Schicksale geht.

(Beifall DIE LINKE)

Genannt sei die Pflegeversicherung. Wir rühmen uns mit der Pflegeversicherungsreform: Es gibt mehr Leistungen. Aber gleichzeitig machen wir den anderen Schritt, auch wenn es mehr Sachbezüge und dergleichen gibt, man geht natürlich daran, die Einstufungen zu verschärfen in eine Pflegestufe, Rückstufungen zu machen mit dem Ziel, es darf nicht mehr kosten.

Ein weiteres Beispiel ist die Situation in der Rentenversicherung. Wir hatten das in diesem Hohen Haus schon mehrmals auf der Tagesordnung. Rentenlücken im Rahmen der Rentenüberleitung von DDR-Rentenrecht in Bundesdeutsches Rentenrecht. Wir hatten hier schon die Debatte zu Rentenungerechtigkeiten. Wo drückt sich das aus, diese Ungerechtigkeiten? In Klageverfahren, die bei den Sozialgerichten anhängig sind. Auch die Empfehlung an die Justizministerkonferenz, im Schwerbehindertenrecht den Grad der Behinderung zu verändern, gröber zu fassen, das Merkzeichen RF, also Rundfunk- und Fernsehgebührenbefreiung, abzuschaffen, führt wieder zu Ungerechtigkeiten und auch das wird wieder zu mehr Widersprüchen und zu mehr Klagen führen.

Meine Damen und Herren, je unklarer die Sozialgesetzgebung insgesamt formuliert ist, umso mehr Ermessensspielraum haben diejenigen, die darüber entscheiden müssen. Das sind in erster Linie die Bearbeiter der Leistungsgewährer. Die Frage lasse ich gleich zu, ich will nur noch den Absatz zu Ende machen. Der Ermessungsspielraum, den die Gesetzgebung zulässt, ist ja das schwierige Problem. Ich will da nur mal ein Beispiel nennen. Eine ARGE, ein ARGE-Flur, zwei Dienstzimmer, zwei Betroffene, im ARGE-Jargon Kunden genannt, sitzen drin und haben die gleiche Problemlage. Was passieren kann, im Zimmer A wird so entschieden und im Zimmer B wird das ganze Gegenteil entschieden, weil der Ermessensspielraum so groß ist. Das führt zu Rechtsunsicherheiten, zu Rechtsunklarheiten, das führt zu Widersprüchen und das führt letztendlich zu Klagen. Jetzt.

Vizepräsidentin Dr. Klaubert:

Frau Abgeordnete Marx, Sie können jetzt Ihre Frage an den Abgeordneten Kubitzki stellen.

Abgeordnete Marx, SPD:

Herr Kubitzki, nachdem Sie eben genannt haben, beklagenswerte Zustände in der Uneinheitlichkeit der ARGE-Bescheidung, Defizite aus Ihrer Sicht in der Rentenversicherung, der Krankenversicherung und der Pflegeversicherung. Würden Sie mir dann zustimmen, dass der von Ihnen in Ziffer 2 a) vorgeschlagene Maßnahmekatalog unzureichend ist?

Abgeordneter Kubitzki, DIE LINKE:

Frau Marx, auch schon im Tagesordnungspunkt vorher haben wir hier kundgetan, wir sind grundsätzlich gegen diese Gesetzgebung. Wir sind gegen diese Hartz-IV-Gesetzgebung. Wir sagen noch mal - und das werde ich auch heute noch mal tun, auch wenn Sie es bald nicht mehr hören können -, wir wollen, dass das wegkommt!

(Beifall DIE LINKE)

Was wir jetzt sagen, und die Maßnahmen, die wir vorgeschlagen haben, hat Ihnen Frau Leukefeld doch heute schon dargelegt.

(Zwischenruf Abg. Höhn, SPD: Und wie heißt die Alternative?)

Wenn Sie da nicht hier anwesend waren, tut mir das leid.

Aber Frau Marx, das, was wir jetzt hier vorgeschlagen haben, sind nur Schritte, um die Problemlage zu vermindern. Es ist nicht eine dauerhafte Lösung. Wir wollen so eine dauerhafte Lösung, darauf komme ich aber am Ende meiner Rede zurück, die ich Ihnen noch mal darlegen will, dass es gar nicht mehr zu diesen Widersprüchen und zu den Klagen kommt, weil wir dieses Gesetz nicht brauchen. Um das fortzusetzen, die Qualität der ARGEN, die Sie auch in Ihrem Beitrag genannt hatten, Frau Marx, möchte ich noch nicht einmal sagen, die ARGEN sind daran schuld oder die Mitarbeiter in den ARGEN sind daran schuld.

(Unruhe SPD)

Die können nichts dafür, die setzen unklare Gesetze um und haben natürlich einen breiten Ermessensspielraum. Dann gibt es da noch, was kaum einer weiß, so Richtlinien und Verordnungen innerhalb der ARGEN, wie was ausgelegt werden soll, die eigentlich kein Mensch kennt, die im Schreibtisch festgehalten werden. Das ist doch das Problem. Dafür können doch die Mitarbeiter nichts.

Ich will Ihnen aber auch mal ein paar Zahlen sagen aus dem Arbeitsagenturbereich Gotha. Dort ist uns in einem Gespräch mitgeteilt worden, dass monatlich in den ARGEN dieses Arbeitsamtsbezirks pro ARGE zwischen 300 und 400 Widersprüche eingelegt werden und dass pro Tag 80 bis 100 Überprüfungsanträge gestellt werden. Das ist doch Beweis genug, wie unklar die Richtlinien und Gesetze in den ARGEN sind und wie man mit Ermessensspielraum arbeiten kann. Ich habe mal im Sozialrecht und bei Sozialrechtsberatungen gelernt, also da wurde mir beigebracht, die Sozialgesetzgebung oder die darüber zu entscheiden haben, die entscheiden so, dass erst mal nur das Minimale herausgerückt wird und nicht das Maximale, was jemandem zusteht. So wird auch in dieser Empfehlung an die Justizministerkonferenz dargelegt und das findet sogar unsere Zustimmung, dass die Entfernung von den Betroffenen zu den Entscheidungsträgern immer größer wird.

Rufen Sie doch mal in einer ARGE an. Mir ist es letztens bei meiner gesetzlichen Krankenkasse passiert. Da wollte ich eine Auskunft haben und lande in irgendeinem Callcenter, das ist vielleicht in Rostock, Cottbus, Frankfurt oder sonst wo, ich bin dort weitergereicht worden, musste fünfmal das Gleiche erzählen, bis ich entnervt war, und eine Antwort hatte ich nicht. So kann man nicht mit Menschen umgehen, die eine Leistung beanspruchen, die beraten werden wollen.

(Beifall DIE LINKE)

Das ist weltfremd. Das ist meiner Meinung nach aber Abschotten der Behörden von den Betroffen und dahinter ist Absicht.

Ein weiteres Beispiel will ich noch nennen, was auch zu Klageverfahren führt: Schwerbehindertenrecht. Wir haben es hier in Thüringen erreicht, dass die Aufgaben der Versorgungsverwaltung kommunalisiert wurden. Was haben wir denn damit erreicht? Wir haben erstmal Kompetenz zerschlagen in den Versorgungsämtern, Fachkompetenz ist weg, wir haben jetzt noch ganze zwei Amtsärzte, die noch in der Versorgungsverwaltung sind, das andere hat man den Kommunen gegeben und damit die Fachkompetenz auch zerschlagen und es sind höhere Wartezeiten entstanden überhaupt erstmal bis zur Bescheiderteilung und natürlich viel höhere Wartezeiten, was Widersprüche und dergleichen betrifft. Auch das führt zu Frust. Herr Minister, Sie haben die Zahlen genannt, Verfahrensanzahl und dergleichen, vielen Dank dafür. Herr Minister, Sie stimmen doch bestimmt mit uns überein: Hinter jeder Verfahrenszahl steht auch eine Anzahl von Stunden, Monaten, Jahren, bis die Bearbeitung erfolgt. Das heißt: die hohen Wartezeiten. Besonders im Rentenrecht bedeutet das leider oft, dass derjenige, der geklagt hat für sein Recht, wenn er Recht bekommt, das Recht gar nicht mehr genießen kann. Das ist schlimm und das ist auch unsozial.

Fakt ist letzten Endes: Je gröber die Sozialgesetze gefasst werden, umso unklarer sind die Bescheide, umso mehr Widersprüche wird es in Zukunft auch weiterhin geben. Da gibt es eine Empfehlung auch wieder an die Justizministerkonferenz, Pauschalleistungen zu gewähren. Wenn man das - das muss ich sagen - als den Fortschritt nennt, Pauschalisierung zu machen - das haben wir ja teilweise schon bei den Kosten der Unterkunft -, ich glaube, da erreichen wir nicht, dass die Klagen abnehmen werden und die Widersprüche. Auch das ist doch Tatsache im Sozialrecht, auch das wurde mir beigebracht: Jeder Antrag, jeder Fall ist ein Einzelfall und kann nicht miteinander verglichen werden. Letzten Endes würde eine Pauschalisierung auch dem Bedarfsdeckungsprinzip widersprechen.

Ich glaube - damit will ich dann abschließen und da komme ich noch einmal auf Frau Marx zurück -, das Problem der Sozialgerichte, die eine sehr hohe Belastung haben, was heute hier festgestellt wurde, da können wir sonst wie herumfeilen mit irgendwelchen Sachen und Rundungsbeträge abschaffen oder sonst was machen, die Sozialgerichte können nur entlastet werden, wenn wir eine bessere Sozialgesetzgebung haben, wenn wir eine Sozialgesetzgebung haben, die Menschen, die benachteiligt sind, ein menschenwürdiges Leben gewährleistet, wenn wir eine Sozialgesetzgebung haben, aber auch eine Wirtschaftspolitik, die Menschen in Arbeit bringt, um sie aus der Armut herauszubringen. Diese Gesetzgebung würde die Sozialgerichte entlasten. Deshalb muss ich hier noch einmal abschließend sagen: Weg mit Hartz IV!

Ich sage aber auch: Schaffen wir endlich Rentengerechtigkeit in diesem Land! Das entlastet unsere Sozialgerichte. Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE)

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