Fünftes Gesetz zur Änderung der Verfassung des Freistaats Thüringen – Einführung des Europabezuges

Anja Müller

Zum Gesetzentwurf der Fraktion der FDP - Drucksache 7/2291

 

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, der vorliegende FDP-Gesetzentwurf zur Änderung der Verfassung trägt den Zusatztitel „Einführung des Europabezuges“. Da möchte ich mal zur Klarstellung betonen, in der Präambel der Thüringer Verfassung ist der Europabezug schon enthalten. Ich lese ihn auch noch mal vor. „In dem Bewusstsein des kulturellen Reichtums und der Schönheit des Landes, seiner wechselvollen Geschichte, der leidvollen Erfahrungen mit überstandenen Diktaturen und des Erfolges der friedlichen Veränderungen im Herbst 1989, in dem Willen, Freiheit und Würde des Einzelnen zu achten, das Gemeinschaftsleben in sozialer Gerechtigkeit zu ordnen, Natur und Umwelt zu bewahren und zu schützen, der Verantwortung für zukünftige Generationen gerecht zu werden, inneren wie äußeren Frieden zu fördern, die demokratisch verfasste Rechtsordnung zu erhalten und Trennendes in Europa und der Welt zu überwinden, [...].“ heißt es darin ausdrücklich. Damit ist ein grundsätzliches und ausdrückliches Bekenntnis zu einem friedlichen und vereinten Europa schon in der Verfassung verankert. In Artikel 23 des Grundgesetzes ist das Subsidiaritätsprinzip mit Bezug auf die europäischen Strukturen und Beziehungen schon ausdrücklich enthalten. Auch über das sogenannte Homogenitätsprinzip des Artikels 28 Grundgesetz gilt diese Bestimmung ebenfalls auch für die Bundesländer.

 

Der vorliegende Gesetzentwurf enthält als Regelungskern die ausdrückliche Festschreibung des Subsidiaritätsprinzips in der Landesverfassung und die Klarstellung der Eigenständigkeit der Regionen. Nach dem zu Präambel und Grundgesetz Gesagten stellt sich die Frage, ob bzw. warum in der Thüringer Verfassung die Punkte „Subsidiaritätsprinzip“ und „Eigenständigkeit der Regionen“ ausdrücklich genannt werden sollten. Eine ausgeprägte Europaorientierung der Verfassung ist für eine vielfältige, weltoffen orientierte Zivilgesellschaft in Thüringen und entsprechendes staatliches Handeln aber sicherlich sinnvoll.

 

Ich möchte Ihnen kurz erläutern, wie wir als Fraktion dazu stehen: Für die Linke ist Europa viel mehr als nur die EU. Europa lebt und entwickelt sich zwischen den Menschen vor Ort und in ihrem Alltag. Es ist auch keine neue Information, dass wir als Linke in Sachen EU schon länger einen deutlichen Reformbedarf sehen, vor allem umso mehr, wenn es darum geht, ein wirklich soziales Europa für die Menschen, für die Einwohnerinnen und Einwohner und auch für die Menschen, die zu uns kommen wollen, auf den Weg zu bringen.

 

Die Bundeszentrale für politische Bildung beschreibt das Subsidiaritätsprinzip in ihrem Onlinebegriffslexikon wie folgt: „Nach dem Subsidiaritätsprinzip soll eine (staatliche) Aufgabe soweit wie möglich von der unteren Ebene bzw. kleineren Einheit wahrgenommen werden. Die Europäische Gemeinschaft darf nur tätig werden, wenn die Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht ausreichen und wenn die politischen Ziele besser auf der Gemeinschaftsebene erreicht werden können.“ Diese Begriffsbestimmung zeigt: Die Festschreibung dieses Subsidiaritätsprinzips macht die Diskussion und Entscheidung darüber nicht überflüssig, wie die europäische Integration und die europäische Zusammenarbeit ausgestaltet sein sollen. Das betrifft das Verhältnis der EU-Strukturen zu den Mitgliedstaaten und umgekehrt. Es betrifft auch die Rolle der Bundesländer in diesen EU-Strukturen.

 

Welche Aufgaben sollen warum von der EU-Ebene erfüllt werden, welche Aufgabenerledigung soll warum bei den Einzelstaaten verbleiben, welche Fakten und Argumente sprechen für bzw. gegen welche Zuständigkeitsebene? Das Subsidiaritätsprinzip stellt die Frage danach, wie weit die politische Integration der Einzelstaaten zu einem vereinten Europa fortschreiten soll. Und das Subsidiaritätsprinzip stellt auch noch die Frage: Soll Europa bzw. die EU ein Europa der Menschen, seiner Einwohnerinnen und Einwohner sein oder aber geprägt von mehr oder weniger frei schwebenden Verwaltungsapparaten? Die Aufnahme des Prinzips in die Verfassung beantwortet aber diese wichtigen gesellschaftspolitischen Gestaltungsfragen in Sachen Europa nicht wirklich und nicht allein.

 

Auch die Klarstellung der Eigenständigkeit der Regionen ist eine Formulierung, die gesellschaftspolitische Gestaltungsrahmen stellt, aber für sich genommen diese nicht beantworten kann. Wenn man zum Beispiel diese Eigenständigkeit der Regionen nicht innerhalb einzelstaatlicher Grenzen definiert, sondern auch grenzüberschreitend versteht, dann ist das ein sinnvolles Gegenkonzept gegen nationalistische Engstirnigkeit. Es gibt in Europa schon zahlreiche solcher grenzüberschreitenden, auch historisch eng vernetzten Regionen.

 

Aber was bedeutet ein humanes Europa für und mit den Menschen? Diese Frage muss in unseren Augen zuerst beantwortet werden, und zwar inhaltlich und möglichst orientiert auf gute Ergebnisse für den Lebensalltag der Menschen vor Ort. Was heißt das für die Menschen in Thüringen in ihrem täglichen Leben? In der Europadebatte auch in Thüringen geht es oft, gegebenenfalls zu oft, fast ausschließlich um komplizierte Verwaltungsabläufe, um virtuelle Geldtöpfe aus Brüssel. EU-Fördermittel sind zur Umsetzung von Projekten sehr wichtig, aber eine solche ziemlich funktionale Sicht auf Europa vermag viele Menschen leider nicht für Europa als Realität in ihrem Alltag begeistern.

 

Die angesprochenen Grundsatzfragen machen deutlich, warum wir uns als Linke auch und gerade mit Blick auf die vorgeschlagene Verfassungsänderung eine grundsätzlichere, gesellschaftliche Debatte im Ausschuss für Europa, Kultur und Medien wünschen. Die Festschreibung des Subsidiaritätsprinzips als ganz bestimmtes Regelungsmodell zur hierarchischen Sortierung von gesetzgeberischen, verwaltungstechnischen und juristischen Zuständigkeiten muss gegründet sein auf der gesellschaftspolitischen Klärung, welche Aufgabe die verschiedenen beteiligten Handlungsebenen warum erfüllen sollen. Aber – ich wiederhole mich gern – Regelungen zum Subsidiaritätsprinzip und zur Eigenständigkeit der Regionen hängen in Funktion und Inhalt von den gesellschaftlichen Positionen zur Frage ab, wie integrativ vereint oder wie leider immer noch nationalistisch orientiert die EU denn nun sein soll. Die Frage nach der richtigen Handlungsebene ist zum Beispiel auch die Frage danach, wie weit wir sind sozial ausgerichtet sind und wie integriert oder wie stark national zersplittert und mit leider großem Wirtschafts- und Sozialgefälle die EU ist. Die Linke kritisiert schon lange und immer wieder deutlich, dass das in der EU bestehende Wirtschafts- und Sozialgefälle zugunsten menschenwürdiger Existenzsicherung der Menschen dringend beseitigt werden muss, damit nicht weiter von den Unternehmen Profite und auf Kosten von Menschen und deren sozialen Absicherung gemacht werden können.

 

Der Thüringer Landtag, seine Gremien und Fraktionen müssen beantworten, welche Rolle und Funktion sie für das Bundesland in diesem europäischen Gefüge sehen und wie Europa bei den Menschen in Thüringen in ihrem Lebensalltag wirklich stattfinden kann und soll auch im Sinne umfassender und gleicher Teilhabe für alle. Das sind die gesellschaftspolitischen Fragen, die vor allem den Europaausschuss angehen. Dieses Gremium ist der Fachausschuss, der sich regelmäßig mit diesen Subsidiaritätsfragen in konkreten Fällen befasst und dazu Einschätzungen gibt, also zu der Frage: Warum soll die EU-Ebene bestimmte Aufgaben erfüllen?

 

Noch eine abschließende Bemerkung: Es ist unverzichtbar, dass der Landtag begleitend zur Diskussion um die Verfassungsänderung konkret und praxisorientiert arbeitet. Ich wünsche mir und allen eine spannende Debatte zur Frage, wie sich Thüringen in diesem Gesetzentwurf wiederfindet und was wir den Menschen für die Frage „Machen wir Europa mit Bezug auf die Verfassung stärker?“ mitgeben wollen. Wir würden es uns wünschen, aber da braucht es ein bisschen mehr als diesen Gesetzentwurf.

 

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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