Fördern statt Sitzenbleiben – Abschaffung von teuren und unwirksamen Klassenwiederholungen

Zum Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drucksache 5/1401 -


Herr Präsident, meine Damen und Herren Abgeordneten, ich bin den GRÜNEN wirklich dankbar, dass sie das Thema zum Thema gemacht haben, weil man merkt, dass man auch hier drin mal wieder darüber reden muss. Ich gebe zu, am Anfang war ich schon fast ein bisschen eingeschlafen und dachte, wir sind uns alle einig und das ist ja wohl klar, aber nachdem ich Herrn Kowalleck jetzt gehört habe, muss ich mich echt zügeln, dass das jetzt nicht überspringt. Genau mit diesen Sachen wollte ich eigentlich anfangen. Das Sitzenbleiben ist in den Köpfen vieler deutscher Lehrer nach wie vor fester Bestandteil und das ist doch das Problem, Herr Kowalleck, Sie sind das Problem.


(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Lehrer, die so denken, sind das Problem. Deswegen kann sich das deutsche Schulsystem nicht so weiterentwickeln, wie wir uns das wünschen. Es besteht aus Druck, aus Angst und sozusagen das Sitzenbleiben als die letzte Maßnahme. So kann es nicht sein. Das ist nicht das, was wir unter guter Schule verstehen. Ich sage es wieder von diesem Pult aus, wir haben ein alternatives Schulgesetz aufgeschrieben und haben genau zu diesen strittigen Fragen vorher Fachkonferenzen durchgeführt. Ich erinnere an die Fachkonferenz vom 27.11.2007 - da gibt es noch einen Reader, den werde ich Ihrer Fraktion zu Verfügung stellen -, wir hatten Bildungswissenschaftler eingeladen und haben auch versucht, mit denen zu diskutieren, um die Argumente zu finden, um genau andere Formen der Bewertungen zu hinterfragen, die eine gelingende Schullaufbahn ermöglichen. Das ist nicht nur eine Frage des Sitzenbleibens, das ist überhaupt die Frage der Bewertung und wie das deutsche Schulsystem derzeit aufgebaut ist.


Ich gebe zu, dass die Diskussion im Nachhinein in unserer eigenen Parteimitgliedschaft nicht so einfach war, denn auch da, wenn man nachfragt, sind natürlich genauso viele Leute, die sagen, das war schon immer so und das braucht es so und daran müssen wir auch gar nichts ändern. Aber wir müssen etwas daran ändern, und zwar genau aus dem Grund, weil uns viele Schulen, die es schon gibt, vormachen, dass andere Formen der Bewertung dem Kind viel gerechter werden. Da muss man sich nur mal den Lebenslauf eines Kindes genauer betrachten. Die Kinder werden geboren und sind neugierig. Sie lernen jeden Tag ganz viel dazu, ohne dass irgendjemand eine Note dafür gibt oder Bienchen verteilt. Kinder sind neugierig und haben eine Motivation an Wissenserwerb und diese Fenster müssen auch geöffnet werden, Anregungen müssen gegeben werden. Deswegen wird jetzt viel mehr Wert auf frühkindliche Bildung gelegt. Irgendwann stehen dann alle am ersten Schultag ganz stolz mit ihrer Zuckertüte vor der Tür und gucken mit großen Augen die Lehrerin oder den Lehrer an und erwarten, dass es jetzt in der Schule auch so weitergeht. Es dauert aber oft nicht lange, bei manchen länger, bei manchen weniger lange, manchmal auch Jahre, je nachdem, wie gut die Schule ist, und den Kindern wird es abgewöhnt, nur von sich aus neugierig zu sein und von sich aus eine Lernmotivation zu entwickeln und einfach am eigenen Wissenserwerb Freude zu empfinden, weil diese Motivation, die jedes Kind eigentlich in sich hat, zerstört wird,


(Beifall SPD)


zerstört wird eigentlich durch das erste Bienchen, durch die Note, durch irgendeinen Euro, den man bekommt für eine gute Note usw. Stellen Sie sich doch die Kinder vor, die einen, die in der ersten Klasse anfangen, die können schon ihren Namen schreiben, und andere, die können noch nicht mal einen Stift halten. Irgendwann, ich sage mal, nicht bei der ersten Note, sondern schon beim ersten Bienchen bekommen die einen mit, dass die einen immer die Bienchen bekommen und die anderen sich Mühe geben können, wie sie wollen, und sie bekommen dieses Bienchen aber nicht. Irgendwann muss ich als Lehrer dann sozusagen „gerecht“ bewerten und dann ist die Motivation futsch, dann sortieren wir die am Ende der 4. Klasse noch ein in die Schlauen und in die nicht so Schlauen und dann wundern wir uns, dass das deutsche Schulsystem nicht so eine gelingende Atmosphäre hinbekommt wie beispielsweise das finnische Schulsystem.


(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In Skandinavien ist Sitzenbleiben ein Fremdwort. Dort sagt man: Kein Kind darf zurückbleiben! Bei den ersten Anfängen, wenn irgendein Kind irgendetwas nicht versteht oder Schwierigkeiten bei dem oder jenem hat, wird ihm geholfen durch individuelle Förderung, und zwar die Spiegelung immer an sich selbst, an seinen eigenen Leistungen und nicht an dem Durchschnitt von irgendwas. Deswegen sind auch Durchschnittsnoten so sinnlos. Ich kann mich auch noch an Dienstberatungen erinnern, ich habe in der 6. Klasse oft genug Mathe erteilen müssen, wir wurden schon im Halbjahr in der Dienstberatung darauf hingewiesen, dass der Notenschlüssel am Jahresende eindeutig sein muss und die Mathenote war immer das scharfe Schwert, ob am Ende in eine Hauptschulklasse oder Realschulklasse einsortiert wurde; Gott sei Dank ist das nicht mehr so. Aber das fiel uns schwer und wir mussten den Notenspiegel entsprechend natürlich so machen, dass Eltern dann nicht auf die Idee kommen, dass da irgendwie vielleicht was nicht ganz koscher ist. Jetzt haben wir im Spiegel-Online hoffentlich alle gelesen, dass Lehrer sogar noch Recht bekommen, sogar von Gerichten, dass diese subjektive Notengebung über Schulwege entscheidet. Aber das ist doch nicht gelingende Schulentwicklung, das ist doch nicht gelingendes Lernen. Das braucht man nicht dazu, diese Angst vor dem Sitzenbleiben. Und ich kann Ihnen auch Beispiele erzählen, wo ich einen Schüler dreimal in der 6. Klasse hatte und dann hatte dieser seine neun Schuljahre rum und hat das Schulsystem ohne Abschluss verlassen. Er hat dreimal Bruchrechnungen lernen sollen. Im ersten Jahr hatte er, glaube ich, zwei Fünfen und in jedem nächsten folgenden Jahr mehr Fünfen. Man nimmt den Kindern, wenn sie dann auch noch ihre Klasse verlassen müssen, auch jeden sozialen Bezug, ihre Freunde. Das ist beschämend.


(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Schule darf nicht beschämend sein. Das ist der springende Punkt. Dass man am Ende sogar dabei noch sparen würde, das ist sozusagen nur für die, die es anders nicht verstehen, denn Marianne Demmer (GEW) hat herausbekommen, dass je Wiederholungsschüler Personalkosten von 4.000 € pro Jahr ausgegeben würden und das Geld könnte sinnvoller eingesetzt werden. Wenn Sie noch ein paar Autoritätsbeweise brauchen, also dann: Selbst Salzburger Bildungsforscher sehen das als politischen Irrweg und als Relikt aus der pädagogischen Mottenkiste des 19. und 20. Jahrhunderts. Und selbst der Pädagoge und Leiter der Internatsschule Schloss Salem, Bernhard Bueb, den ja auch viele kennen, mit dem Buch „Lob der Disziplin“, selbst er ist der Meinung: „Das Problem der Kinder, warum sie nicht lernen können, löst sich nicht durch das Sitzenbleiben. Eine Klasse zu wiederholen, werde nicht selten als Schande empfunden und oft als traumatisches Erlebnis erinnert, als eine richtige Demütigung.“ Das System der staatlichen Schulen brauche noch immer die „Angst vor Versagen als Motivation“. Sehr viele von uns sind diese Schule durchlaufen, durchaus erfolgreich. Ich musste keine Angst vor Sitzenbleiben haben; Herr Voigt, Herr Kowalleck, Sie sicherlich auch alle nicht. Aber es gibt Kinder, die nicht so sind wie wir, und denen muss man auch Erfolgserlebnisse verschaffen, damit sie an sich selber wachsen können.


(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie sich nur nach vorn gekämpft haben und Sieger sein wollten beim Wissen darum, dass es dann Verlierer geben muss. Ich denke, ein Schulsystem braucht weder Sieger noch Verlierer, sondern es braucht einfach Motivation und die muss man erhalten.


(Beifall DIE LINKE)


Es gibt eine pädagogische Bildungsforschung und die muss man sich einfach zu Gemüte führen. Im Übrigen, ich erinnere noch mal daran, in den reformpädagogisch orientierten Schulen, meistens sind es ja die freien Schulen, wird das auch gezeigt, dass das geht, und ich hoffe, dass diese in den Evaluierungsmaßnahmen des Ministeriums auch mit bewertet werden, dass man endlich sehen kann, welche Formen auch wirklich sinnvoll sind und wie man zu guten Ergebnissen kommen kann. Das hat nichts damit zu tun, dass man seinen Namen tanzen können sollte. Das ist so etwas von diffamierend. Sie schmücken sich so oft mit der Reformpädagogik in Thüringen als Wiege, aber wenn es wirklich darum geht, reformpädagogische Ideen in die Tat umzusetzen, die überhaupt nicht mehr neu sind und auch wissenschaftlich gut begründet und untersucht sind, dann ist es vorbei mit dem Loblied auf die Reformpädagogik, da wird auf Stammtischniveau gesagt, das war schon immer so und die Erde ist eine Scheibe und das ändern wir nicht.


(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das können wir nicht so gelten lassen. Ich sage es noch mal, ich habe bestimmt eine ganze Menge vergessen, was ich noch so sagen wollte. Eins wollte ich noch zumindest auch mit anmerken. Es gibt eine Ausnahme und das ist die Ausnahme, wenn Kinder und Eltern aus irgendwelchen Gründen das möglicherweise tatsächlich wollen, dann ist das sozusagen im Gespräch als eigene Maßnahme akzeptiert und das sollte natürlich möglich sein. Anders ist auch eine veränderte Schuleingangsphase hier nicht zu verstehen und auch die Idee mit so einer veränderten Schulausgangsphase zu hantieren, ist sicherlich sinnvoll. Das gestehen wir gern zu. Aber eben nicht als Strafmaßnahme und nicht rausreißen aus dem Sozialbezug. Veränderte Schuleingangsphase heißt ja, man bleibt in dem sozialen Bezug drin.


Sie verwiesen auch auf die hohen Kosten, die Thüringen in seinem Schulsystem ausgibt. Das ist wohl richtig, aber es hat ja auch was mit dieser Teilzeitverbeamtung, die dann aufgehoben worden ist vom Gericht, zu tun. Leider hat der Minister jetzt dieses Kontaktstundenunwesen von seinem glücklosen Vorgänger übernommen. Es ist eben leider so, dass an den Schulen tatsächlich eine ganze Menge Lehrerstunden zur Verfügung stehen, aber am Schüler gar nicht gearbeitet werden darf. Das würde man ja bemerken, weil dann die Glückswolke in zwei Jahren vorbei ist. Wenn man diese Möglichkeiten der individuellen Förderung wirklich nutzen würde, dann könnte man möglicherweise zuerst unter den Lehrern auch ein neues Bewusstsein entwickeln. Ich denke, eine andere Atmosphäre an Schulen heißt auch eine ordentliche Personalausstattung und genügend personelle und sächliche Ressourcen. Die Chance hat man vertan und leider haben Sie die auch wieder vertan und noch nicht aufgegriffen. Ich hoffe, dass sich da einfach etwas ändert, denn anders können wir die Ziele des gemeinsamen Unterrichts und das für uns tatsächlich am Horizont stehende Ziel einer inklusiven Schule ohne Trennung der Schülerinnen und Schüler mit einer anderen Form der Bewertung nicht angehen. Letzten Endes wird sich das dann auch widerspiegeln - und da haben Sie völlig Recht, Herr Kowalleck - bei der Anmeldung bei freien Schulen, weil die das eben leisten und weil Eltern erkennen, dass das gute Schulen sind. Ich möchte aber, dass alle Schulen in Thüringen gute Schulen sind.


(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dateien