Armut bekämpfen – Armutsprävention stärken

Zum Antrag der Fraktionen DIE LINKE, der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drucksache 6/2931


Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin, werte Kolleginnen und Kollegen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer auf der Besuchertribüne und am Livestream! Ich möchte ergänzend zu meiner Kollegin Karola Stange in meiner Rede den Schwerpunkt auf ein spezielles Thema legen, ein Thema, welches eine besondere und eine subtile Form der Ausgrenzung und Gewalt gegenüber den Schwächsten in unserer Gesellschaft darstellt – die Kinderarmut.

Kinderarmut ist leider ein immer noch zu wenig beachtetes Thema im politischen Diskurs. Dies hat verschiedene Gründe: Unser Armutsbild ist einerseits von drastischer Not, Hunger und Obdachlosigkeit geprägt. Kinderarmut in Deutschland dagegen kommt weniger spektakulär daher, oftmals wird sie gar nicht als solche erkannt. Des Weiteren wird oft versucht, die Schuld für die Notsituation den Armen selbst zuzuschieben. Im Fall der Kinder sind es natürlich deren Eltern, die gesellschaftlich dann schnell als „faul“, „asozial“ oder „Säufer“ abgestempelt werden. Es wird ihnen unterstellt, sie hätten sich selbst in diese Lage gebracht, und daher wird von ihnen auch erwartet, dass sie sich selbst aus dieser Misere befreien – ein bisschen wie Münchhausen, der sich am eigenen Haar aus dem Sumpf ziehen soll.


Aber Kinderarmut stellt nicht nur in den sogenannten Ländern der Dritten Welt ein Problem dar, sondern natürlich auch in Thüringen und in Deutschland. Hier kann sie sogar erniedrigender und deprimierender sein, weil sie sich wenn auch nicht als absolutes Elend, so doch als soziale Ungleichheit und Ausgrenzung äußert. Armen Kindern fehlt – neben den symbolhaften Markenschuhen und der Wertschätzung – meistens auch das Selbstbewusstsein, Chancen zu ergreifen. Sie erleben oft mehr Streitigkeiten zu Hause, neigen öfter zu Risikoverhalten, müssen häufiger Klassen wiederholen. Die Tür zur Zukunft fällt da nicht ins Schloss, nein, sie geht gar nicht erst auf. Arme Kinder leiden nicht nur unter schlechter Ernährung, unzureichender ärztlicher Versorgung, sie haben auch schlechtere Chancen auf Bildung. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie später eine Hochschule besuchen, ist um ein Vielfaches geringer als bei gleichaltrigen Kindern mit anderen sozialen und finanziellen Voraussetzungen. Ihre Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe und soziale Beziehungen sind ebenso stark eingeschränkt, da sie von vielen Bereichen des Lebens – wie etwa Kinobesuche oder Musikunterricht – von vornherein ausgeschlossen werden. Prof. Dr. Christoph Butterwegge spricht hier von einer „strukturellen Gewalt, die Kinder und Jugendliche noch härter trifft als die Erwachsenen“.


(Beifall DIE LINKE)


Als arm gilt in Europa jede und jeder, der weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens seines Landes zur Verfügung hat; also für eine Familie in Deutschland mit zwei Kindern unter 14 Jahren wäre das weniger als 1.926 Euro im Monat netto. Dies betrifft bis zu 19 Prozent aller Kinder; in Ostdeutschland ist sogar jedes vierte Kind von Armut bedroht. Fünf von 100 Minderjährigen leiden unter „erheblichen materiellen Entbehrungen“, wie es das Bundessozialministerium ausdrückt.


Bei Kindern von Alleinerziehenden ist das Risiko, in Armut aufzuwachsen, sogar mehr als doppelt so hoch wie in Zwei-Eltern-Familien. Wie Ministerin Heike Werner bereits in der Regierungserklärung erwähnte, leben allein in Thüringen fast 50.000 Kinder und Jugendliche in sogenannten Bedarfsgemeinschaften. Das bedeutet, dass 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in Thüringen auf Hartz IV angewiesen sind. Das sind etwa 1.500 mehr als es noch vor zwei Jahren waren.


(Zwischenruf Abg. Mohring, CDU: Eure Regierungspolitik!)


Die Quote für die unter 15-Jährigen, die auf Hartz IV angewiesen sind, ist noch höher; da sind es sogar 16 Prozent.


(Zwischenruf Abg. Mohring, CDU: Rot-Rot-Grün wirkt, da kannst du nicht meckern!)


Da komme ich jetzt hin.

Aber warum ist das denn so, warum scheint es denn, dass kein Hilfsprogramm greift und dass Kinderarmut bundesweit stetig zunimmt? Häufig wird bei der Beantwortung dieser Frage Ursache und Auslöser verwechselt. Nehmen wir zum Beispiel eine junge Familie, welche sich nach der Geburt des dritten Kindes trennt. Die Kinder verbleiben einvernehmlich bei der Mutter, welche noch in Erziehungszeit nun für die nächsten Monate von Transferleistungen abhängig ist. In diesem Moment sind wir doch alle der Versuchung unterlegen, die Ursache der Verarmung dieser Familie in der überdurchschnittlich hohen Kinderanzahl und in der Trennung der Eltern zu sehen und genau da liegt der Fehler. Diese Faktoren sind lediglich der Auslöser.


(Beifall DIE LINKE)


In Wahrheit aber war die Familie schon vor der Geburt der Kinder und vor der Trennung der Eltern unzureichend vor Verarmung gesichert und dieser strukturelle Fehler stellt die eigentliche Ursache dar.


(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ursache sind also strukturelle Zusammenhänge der gesellschaftlichen Verhältnisse, Auslöser dagegen bestimmte individuelle, oftmals unfreiwillige Ereignisse im Lebenslauf, welche die zugrundeliegenden Verhältnisse erst vollends zur Wirkung kommen lassen.

(Zwischenruf Abg. Mohring, CDU: Klatscht doch mal wenigstens, Genossen!)

In den vergangenen Jahrzehnten kam es in Deutschland zu einer Umstrukturierung fast aller Gesellschaftsbereiche nach den Markterfordernissen, kurz „Globalisierung“ genannt. Dadurch entstanden vermehrt atypische, prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Arbeitnehmerinnen und damit logischerweise auch Eltern haben daher oftmals kein ausreichendes Einkommen oder, wie zum Beispiel bei Minijobs, noch nicht einmal einen sozialrechtlichen Schutz. Des Weiteren durften wir Zeugen des Um- und des Abbaus unseres Sozialstaats werden. Das Inkrafttreten der Gesetze von Peter Hartz stellt eine Zäsur in der Entwicklung von Armut und Unterversorgung in Deutschland dar und eröffnet ganz neue Zonen der Armut.


(Beifall DIE LINKE)


Wenn aber nun Armut von vielen Kindern die primäre Folge der Globalisierung und der neoliberalen Umstrukturierung ist, dann müssen wir auch deren Pendant, also das Gegenstück, mit in den Blick nehmen, nämlich den Reichtum von wenigen Erwachsenen. Wenn wir Kinderarmut wirklich mit Erfolg bekämpfen wollen, müssen wir endlich anfangen, die Reichen zur Kasse zu bitten.


(Beifall DIE LINKE)


Zum Beispiel, wie es meine Kollegin Frau Stange schon sagte, durch die Wiedereinführung der Vermögensteuer oder durch die Erhöhung der Erbschaftsteuer, um dem Staat die nötigen Finanzmittel zu verschaffen, denn die Antwort auf Kinderarmut kann nur der Ausbau des Sozialstaats sein.


(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Hier benötigen wir einen Paradigmenwechsel, weg vom schlanken, ja geradezu ausgedörrten Sozialstaat, hin zum interventionsfähigen, breit aufgestellten. Außerdem brauchen wir eine neue zeitgemäße Beschäftigungspolitik, denn um Kinderarmut zu vermeiden, müssen existenzsichernde Arbeitsplätze für alle Eltern geschaffen werden. Wir müssen anfangen, darüber zu reden, wie wir in Deutschland Arbeit, Einkommen und Vermögen so umverteilen können, dass es für alle zum Leben reicht.


(Zwischenruf Abg. Mohring, CDU: Ihr regiert doch! Macht es doch!)


Bis dahin müssen aber zuerst die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder und Jugendliche spürbar angehoben werden. Außerdem darf der Bedarf der Kinder nicht länger von Erwachsenen abgeleitet, sondern muss dabei eigenständig ermittelt werden, denn Kinder sind eben keine kleinen Erwachsenen. Genau das hatte auch schon das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht. Ebenso sagte dieses, dass Ausgaben für die Erfüllung schulischer Pflichten zum Existenzminimum von Kindern gehören. Die Bundesregierung hat aber mit dem Bildungs- und Teilhabepaket ein derart bürokratisches Monstrum geschaffen, das bewirkt, dass die Leistungen oftmals gar nicht erst bei den Kindern ankommen. Die Entscheidungen der Bundesregierung zum Kinderzuschlag, Kindergeld oder zu den Regelleistungen nach Hartz IV sind zur Verhinderung von Kinderarmut völlig unzureichend. Ich empfinde es zum Beispiel als höchst fahrlässig, Kindergeld auf den Unterhaltsvorschuss oder die SGB-II-Leistungen anzurechnen. Damit verwehren wir den Familien, die sowieso nicht genug Geld zur Verfügung haben, auch noch das letzte bisschen Hilfe.


(Beifall DIE LINKE)


Das hat teilweise fatale individuelle Folgen, die wir hier, so wie wir hier alle sitzen, bequem in unseren Sesseln, gar nicht ermessen können. Daher werden wir uns als Linke weiterhin stark machen für eine öffentliche Infrastruktur, die allen Kindern Förderung und Teilhabe ermöglicht. Eine gebührenfreie Bildung, die soziale Unterschiede ausgleicht und gleiche Chancen eröffnet, eine familienfreundliche Arbeitswelt mit guten Arbeitsbedingungen, die allen gesellschaftliche Teilhabe und finanzielle Sicherheit gewährt, den Aufbau des Sozialstaats, der die von Armut Betroffenen nachhaltig unterstützt und den Namen „Sozialstaat“ auch wieder verdient.


(Beifall DIE LINKE)


Wir werden uns einsetzen für eine eigene Kindergrundsicherung für alle Kinder, egal woher sie kommen. Denn nur so ist es unseres Erachtens möglich, die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen nachhaltig zu verbessern und das Phänomen Kinderarmut ein für allemal zu überwinden. Vielen Dank.

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