Bericht „Realitätscheck Verfassungsschutzbericht“
Eine kritische Analyse des Thüringer Verfassungsschutzberichts 2024
1. Verzerrtes Lagebild 2024: Wie der Verfassungsschutz rechte Gefahr unterbelichtet und Links überzeichnet
An den Verfassungsschutzbericht des Landes Thüringen wird oft der Anspruch formuliert, die maßgebliche, sachliche und ausgewogene Gesamtdarstellung sogenannter „extremistischer Bestrebungen“ im Freistaat zu liefern. In der politischen Kultur eines Landes, das durch den NSU-Komplex tief geprägt wurde und dessen Verfassungsschutzgesetz nach den Untersuchungsausschüssen ausdrücklich auf Transparenz, frühe Gefahrenkommunikation und rechtsstaatliche Selbstbindung verpflichtet, ist dieser Anspruch nicht nur fachlich, sondern auch verfassungs- und demokratiepolitisch hochsensibel. Dies gilt losgelöst davon, dass Die Linke „Geheimdienste“ als solches innerhalb einer Demokratie für problematisch erachtet. Die vorliegende Analyse zeigt: Der Verfassungsschutzbericht verfehlt den gesteckten Anspruch in zentralen Punkten und enthält Mängel.
Thüringen erlebte 2024 eine massive und eskalierende Welle rechter Straftaten, die mit 2.839 polizeilich dokumentierten Fällen und 206 zivilgesellschaftlich erfassten rechten, rassistischen und antisemitischen Angriffen einen Höchststand seit der Wiedervereinigung markiert. Im Verfassungsschutzbericht werden die akute Gefahr und die konkrete Bedrohung von rechts aber völlig untergewichtet. Er verschiebt stattdessen den Fokus auf eine dramatisierende Darstellung von „Linksextremismus“ und arbeitet mit sprachlichen sowie methodischen Setzungen, die ein verzerrtes Lagebild befördern. Diese Schieflage hat Konsequenzen: Sie schwächt die ohnehin fragwürdige Schutzfunktion des Berichts bzw. der Institution als Frühwarninstrument, sie behindert eine realitätsgerechte Gefahreneinschätzung in Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit und unterläuft letztlich den gesetzlich normierten Auftrag.
2. Datenlage und Kapitelgewichtung: ein falsches Signal
Bereits die formale Architektur des VSB 2024 sendet ein irritierendes Signal. Das Kapitel Rechtsextremismus wurde gegenüber dem Vorjahr in seinem Umfang um fünf Seiten reduziert, während das Kapitel Linksextremismus um vier Seiten anwuchs. Diese Verschiebung fällt in ein Jahr, in dem die polizeilich registrierten politisch motivierten Straftaten aus dem „Phänomenbereich rechts“ jede Woche 54 neue Fälle verzeichnen, die als neue Akten auf den Tischen der Sachbearbeiterinnen und -bearbeiter der Thüringer Polizei und Staatsanwaltschaft landen. Die als „PMK-Rechts-Gewaltdelikte“ registrierten Fälle schnellen von 93 auf 133 in die Höhe, während die Opferberatung noch höhere Fallzahlen dokumentiert, da nicht alle Betroffenen von Gewalt Strafanzeige bei der Polizei erstatten. Jede Woche schlagen dort vier neue rechte, rassistische und antisemitische Angriffe auf. Den 2.839 Straftaten Rechts stehen 960 Straftaten aus dem Spektrum links gegenüber (rund 18 Prozent der PMK-Gesamtzahlen), davon 42 Gewaltdelikte – also ein Drittel der rechten Gewalttaten verglichen mit den Behördendaten oder ein Fünftel verglichen mit dem zivilgesellschaftlichen Befund. Der Bericht reagiert auf diese Asymmetrie nicht mit einer akzentuierten Schwerpunktsetzung, sondern genau umgekehrt: Er räumt Linksextremismus in der Bedrohungswahrnehmung bei Gefahren für die öffentliche Sicherheit mehr Raum als im Vorjahr ein und verknappt das Kapitel Rechtsextremismus. Schon dieser Befund verweist auf eine grundlegende Perspektivverschiebung, die sich durch die gesamte Darstellung zieht, wenngleich die inhaltlich-ideologische Auseinandersetzung mit der AfD an prominenter Stelle stattfindet.
3. Fallauswahl und Darstellungsasymmetrien
Die Schieflage zeigt sich nicht nur in den Seitenzahlen, sondern besonders in der Fallauswahl. Im Kapitel Rechtsextremismus findet sich für das Berichtsjahr 2024 lediglich eine einzige explizit dargestellte Straftat: Hakenkreuz-Schmierereien im Altenburger Land und das in knapper Form[1]. Dem steht im Kapitel Linksextremismus eine seitenlange Aufreihung[2] konkreter Vorkommnisse gegenüber, verteilt über zahlreiche Unterabschnitte, in denen mindestens ein Dutzend Einzelfälle, vor allem mit Gewaltbezug, detailliert, teils mit Ort, Zeit, Tathergang und teilweise wörtlichen Parolen ausgebreitet werden. Die Suggestion ist klar: Extreme Rechte hetzen auf Facebook, in Reden und gefährden die demokratische Kultur mit Wahlerfolgen, teils abstrakt, statistisch, teils ohne greifbare Beispiele im Berichtszeitraum. Linke Gewalt hingegen erscheint plastisch, omnipräsent, konkret als Sicherheitsrisiko. Das spiegelt die Realität der politisch motivierten Kriminalität 2024 jedoch nicht wider. Es wäre ohne Mühe möglich gewesen, auch auf Fallinformationen im Bereich der politisch motivierten Kriminalität Rechts zuzugreifen, da nach § 5 ThürVerfSchG der Austausch mit der Landespolizei Thüringen und dem Thüringer Landeskriminalamt ermöglicht wird. Dort liegt eine Fülle an Akten in den Staatsschutzdezernaten über brutale rechte Angriffe, Bedrohungen, massive Nötigungen und Gewalttaten bis hin zu Anschlägen, die öffentliche Mandatsträgerinnen und Mandatsträger zum Rückzug zwangen.
Dass das AfV bei der „Linksextremismus“ Darstellung einen Schwerpunkt auf den „gewaltorientierten Linksextremismus“ legt, kann methodisch keine Erklärung für diesen Fehlgriff sein. Sogar zwei Fälle des Verdachts auf Rechtsterrorismus sind im Berichtsjahr polizeilich erfasst, finden sich aber beim Verfassungsschutzbericht nicht wieder. Dass der Bericht die Möglichkeiten nicht nutzt, ist keine Petitesse der Darstellung, sondern ein Kardinalfehler: Er entzieht der Öffentlichkeit das anschauliche Material, mit dem das tatsächliche Gewicht der Bedrohungslage verständnis- und erfahrungsnah vermittelt werden könnte und verschiebt so Wahrnehmungsschwellen. Beispielhaft[3] hätte dargestellt werden können:
- 05.12.2024 Erfurt - Zwei Personen werden kurz nach Mitternacht auf dem Weg durch die Paulstraße von vier jungen männlichen Erwachsenen brutal angegriffen, nachdem sie einen ‚Hitlergruß‘ nicht erwidert haben. Sie werden mehrfach ins Gesicht geschlagen und erheblich verletzt. Die Täter äußern mehrfach extrem rechte Parolen und entkommen unerkannt.
- 29.11.2024 Greiz - In der Nacht von Freitag auf Samstag kommt es vor der Vogtlandhalle zu einer körperlichen Auseinandersetzung. Zwei Angreifer wirken dabei auf eine Person ein. Als die Polizei eintrifft, sind die Angreifer verschwunden. Der Polizei wird die Beschreibung der Täter bekannt, welche beide Jacken der Neonazi-Marke „Thor Steinar“ getragen haben sollen.
- 28.09.2024 Erfurt - An der Haltestelle Gorkistraße in Erfurt werden zwei Jugendliche von Nazis angegriffen, nachdem sie Sticker gegen extreme Rechte verkleben. Ein auf Telegram geteiltes Video zeigt, wie die Jugendlichen geschlagen und verletzt werden. Das Video endet mit der Botschaft „Erfurt bleibt national“.
- 11.7.2024 Eisenberg - Ein 36-Jähriger greift eine 75-jährige Ukrainer:in an, beleidigt sie rassistisch und ruft „Heil Hitler“. Ein vorbeifahrender Mann greift ein und kommt der älteren Frau zur Hilfe. Der Angreifer attackiert nun auch den Mann und dessen Auto. Zuvor kam es bereits an der Wohnung des Täters aufgrund von indizierter Musik und eines Posters von Adolf Hitler zu einem Polizeieinsatz.
4. Einseitiger Bericht: AfD bei Straftaten als Opfer – SPD, CDU, Grüne und Linke nicht mal erwähnt
Die empirische Gegenlage ist eindeutig: 2024 stiegen rechte Gewalttaten und Übergriffe in Thüringen deutlich an. Besonders betroffen waren urban geprägte Räume wie Erfurt und Gera sowie Regionen mit sichtbarem rechtspopulistischem und extrem rechtem Mobilisierungserfolg wie Sonneberg, Eisenach und Teile Südthüringens. Zivilgesellschaftliche Dokumentationen verzeichnen eine markante Zunahme rassistischer Angriffe und fast eine Verdreifachung queerfeindlicher Gewalt. Hinzu traten vermehrte Attacken auf politisch Andersdenkende, nicht selten in Kontexten aufgeheizter Protestlagen und im Umfeld von Wahlterminen, Veranstaltungen und Infoständen.
Straftaten im Kontext von Wahlen findet man in einem Kapitel zur Landtagswahl jedoch lediglich unter „Linksextremismus“, etwa auch gegen Büros und Politiker der AfD. Vergleichbare Darstellungen, etwa gegen Politiker und Büros der CDU, der SPD, der Grünen oder der Linken oder durch rechte Täter, fehlen. Und das ohne sachliche Grundlage: 2024 gab es massive Angriffe auf Parteien aus dem demokratischen Spektrum. So etwa am 19. Februar 2024, als in Gotha ein SPD-Lokalpolitiker, der in der Vergangenheit für den Bundestag kandidierte und kurz zuvor mit mehreren Unterstützern eine Demonstration gegen die extreme Rechte in Waltershausen organisiert hatte, Zielscheibe eines Brandanschlages wurde,. Tür und Hauswand wurden mit Brandbeschleuniger in Brand gesetzt, das Feuer griff auf ein Auto über. Nur durch Glück entdeckten schlafende Gäste im Haus den Brand und konnten sich rechtzeitig retten. Dieser Angriff war so schwerwiegend, dass der Betroffene den Freistaat verließ, was die Qualität der Bedrohungslage illustriert.
In Suhl wurden im Berichtszeitraum wiederholt Wahlkreisbüros von Linke, SPD und Grünen attackiert und Scheiben eingeschlagen, in Rudolstadt erhielt ein Linke-Kandidat Morddrohungen, in Gera wurde ein Kommunalwahlkandidat der SPD angegriffen. Die Thüringer Polizei registrierte zudem Straftaten gegen Büros von CDU (2), Grüne (3), SPD (14) und Linke (29) - in Summe 48 Fälle. Leserinnen und Leser des Verfassungsschutzberichts werden darüber jedoch im Unklaren gelassen. Der Fokus bei den Parteien als Opfer von Straftaten liegt ausschließlich auf der AfD. Der VS-Bericht ist kein Kriminalitätslagebild, er muss nicht jeden PMK-Fall listen, aber die selektive-methodische Verzerrung über mehrere Jahre oder auch im Fall von 2024 nicht einmal eine einzige Nennung aus dem demokratischen Spektrum verdeutlicht die Schieflage. Dabei geht es bei diesen ausgelassenen Straftaten nicht um symbolische Sachbeschädigung, sondern um ein kriminelles Aktionsniveau, das Einschüchterung, Entwurzelung und Destabilisierung demokratischer Teilhabe zum Ziel hat. Die selektive Darstellung im VSB 2024 stellt daher keine marginale Unschärfe dar, sondern eine inhaltliche Verschiebung, die schlicht den politischen Realitäten widerspricht.
5. Die AfD als Gefahrenakteur unterbelichtet – erhebliche Auslassungen des Berichts
Ein zentrales Versäumnis betrifft den Umgang mit der AfD. Bereits 2015 wurde zivilgesellschaftlich nachgewiesen, dass die AfD in Thüringen eine extrem rechte Partei ist und auch Verbindungen zur Neonazi-Szene aufweist. Auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie zahlreiche Medien und investigative Rechercheformate haben frühzeitig die Ausrichtung erkannt und immer wieder Beweise dokumentiert. Das Amt für Verfassungsschutz verschlief jahrelang eine akkurate Bewertung: Erst 2018 wurde die Partei im Land zum „Prüffall“ erklärt und nach weiteren 900 Tagen des „Prüfens“ wurde 2021 der Verband als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft.
Der VS-Bericht 2024 analysiert nun zwar durchaus die ideologische Ausrichtung der Partei und das weit vorne im Text, dokumentiert aber weder systematisch Straftaten und Gewaltdelikte aus ihrem Umfeld noch die Rolle der Partei als Andockfläche für organisierte Neonazis, Hooligans und rechtsoffene Vorfeldmilieus. Obwohl diese Verbindungen bereits zivilgesellschaftlich vor zehn Jahren nachgewiesen wurden und obwohl zahlreiche Belege gerade den Charakter der AfD als parlamentarischer Arm, auch der Neonazi-Szene, illustrieren könnten, fehlen sie im Bericht vollständig. Dieses Versäumnis wiegt umso schwerer, als es eine Fülle von Belegen für die „kämpferisch-aggressive“ Haltung der AfD gäbe, die sowohl in einem etwaigen Verbotsverfahren herangezogen als auch gegenüber der Öffentlichkeit verdeutlicht werden könnten.
Wer Gewalt von AfD-Anhängern im Kapitel „Rechtsextremismus“ des Berichts sucht, wird nicht fündig – dabei gäbe es dort einiges zu berichten. Im Berichtszeitraum etwa über einen Angriff von offenkundigen AfD-Anhängern des „AfD-Familienfests“ in Saalfeld im Juli 2024 gegen einen Gegendemonstranten, der auf das Fest lief. Der Fall findet sich – zur Verwunderung von Leserinnen und Lesern des Berichts – dann jedoch im Kapitel „Linksextremismus“, zusammen mit der Schilderung, dass dieser Person sogar „mit Faustschlägen in dessen Gesicht“ geschlagen wurde.[4] Im Berichtszeitraum ereignete sich außerdem eine Vielzahl weiterer Vorfälle, die im VSB keine Erwähnung finden, darunter auch wiederholte Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten oder Vertreter:innen staatlicher Institutionen. So kam es am 16. August 2024 zu einer versuchten Körperverletzung und Nötigung eines Journalisten beim AfD-Familienfest in Gera. Dort wurden durch die Polizei außerdem drei Ermittlungsverfahren nach § 86a StGB wegen illegaler NS-Symbolik eingeleitet. Wenige Tage zuvor beschimpfte ein AfD-Angestellter in Sonneberg bei einer Demonstration eines AfD-nahen Vereins ein ZDF-Kamerateam und wiegelte die Menge auf.
Am Tag der Landtagswahl bedrohte ein AfD-Anhänger mit AfD-Shirt Wahlhelfer eines Wahllokals in Ostthüringen, nachdem diese auf den unzulässigen Charakter der Wahlbeeinflussung hingewiesen hatten. Nachdem die AfD die Konstituierung des Thüringer Landtages nach der Landtagswahl 2024 behinderte und erst das Verfassungsgericht diesen massiven Angriff auf demokratische Prozesse stoppen musste, sprach der Geraer Neonazi Christian Klar gegen die Thüringer Verfassungsrichter, welche einige Tage zuvor mit einer Entscheidung zur Landtagspräsident:innenwahl gegen die AfD entschieden hatten, die Drohung aus: „Dieses Pack, ich hätte fast gesagt, dieses Pack gehört an die Wand gestellt.“
Klar ist Mitglied des Bundesvorstands von „DIE HEIMAT“ (ehem. NPD), ist in Gera eng mit der AfD verbunden und wird durch diese unterstützt, etwa aus der AfD-Stadtratsfraktion und aus der AfD-Landtagsfraktion. AfD-Landeschef Höcke sprach bereits auf Veranstaltungen von Klar. Nach einer Analyse der Linksfraktion im Thüringer Landtag fanden zwischen den Jahren 2023 und 2024 in Gera über 111 Versammlungen – vorwiegend montags – statt, die der extrem rechten Szene oder dem Phänomenbereich „Delegitimierung des Staates" zugeordnet werden und bei denen über 191 Straftaten durch die Polizei registriert wurden. Die Versammlungen wurden dabei mehrheitlich von Klar organisiert, der auch in knapp zwei Dritteln aller Versammlungen offiziell als Anmelder auftrat.[5] Bekannt wurde er auch dadurch, dass er – wie Höcke – wiederholt Redebeiträge mit der strafbaren Parole „Alles für Deutschland!“ (der Losung der nationalsozialistischen SA) beendete. Der Bericht schweigt sich über diese Verzahnung wie im Beispiel Gera aus.
Höcke wiederum fiel im Berichtszeitraum auch öffentlich durch eine Verbindung zu einer terroristischen Organisation auf. Am 5. November 2024 ließ die Bundesanwaltschaft acht mutmaßliche Mitglieder der Gruppierung „Sächsische Separatisten“ wegen dringendem Tatverdacht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung festnehmen. Zwei Tage später wurde ein Foto publik, das Höcke in der Vergangenheit posierend mit fünf der acht Tatverdächtigen zeigt.[6]
Bereits in der Vergangenheit wurde bekannt, dass der rechtsterroristische Mörder, der den CDU-Politiker Walter Lübcke kaltblütig erschoss, auch die Thüringer AfD unterstützte. Dass im Mai 2024 durch antifaschistische Recherchen bekannt wurde, dass der Sonneberger AfD-Landrat in einer Beziehung mit einer Hardcore-Neonazi-Aktivistin ist und mit dieser gemeinsame Wahlkampfaktivitäten unternahm, findet sich ebenso wenig im Bericht, obwohl sie in Thüringen früher relevante Funktionen bei Neonazi-Konzerten und extrem rechten Demonstrationen übernahm, öffentlich den Holocaust leugnete und Adolf Hitler mit dem Hitlergruß huldigte. Vor allem agierte sie im Umfeld militanter Neonazis, deren Wohnungen vom LKA Thüringen und der GSG 9 wegen bewaffneter Waldbiwaks und des Verdachts auf Bildung einer kriminellen Vereinigung durchsucht wurden. Der Landrat ist qua seiner Funktion Chef der unteren Waffenbehörde, welche Entscheidungen über waffenrechtliche Erlaubnisse oder Kontrollen trifft. Anhänger des Thüringer AfD-Landesverbandes sind unterdessen im gesamten Freistaat Thüringen im Besitz von über 150 erlaubnispflichtigen Schusswaffen.[7]Im Jahresbericht 2024 erfährt man über Informationen zur Einordnung von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und demokratische Kultur nichts, obwohl der Verfassungsschutz nach den Regelungen im Waffengesetz (§§ 4 und 5) sowie auf Grundlage von § 21 ThürVerfSchG an den waffenrechtlichen Verfahren ja auch mitwirkt oder mitwirken soll.
6. Rechte Infrastruktur und Kulturindustrie: Musik, Immobilien, digitale Plattformen – unvollständige und fehlende Angaben
Der Bericht bleibt an vielen Stellen vage, oberflächlich oder stellt auch Entwicklungen innerhalb der extrem rechten Szene nicht anhand ihrer tatsächlichen Dimensionen dar.
- 1. Beispiel Musikveranstaltungen
Der Verfassungsschutzbericht stellt insgesamt 20 Musikveranstaltungen der rechten Szene dar, die überwiegend auch realisiert wurden. Er spricht vage von weiteren Veranstaltungen, die es gegeben haben soll. Die Mobile Beratung in Thüringen (MOBIT), welche ihre Analyse „RechtsRock in Thüringen 2024“ bereits 170 Tage früher öffentlich vorgestellt hat, kommt zu einer anderen Darstellung und beziffert mehr als das Doppelte an extrem rechten Musik-Aktivitäten: „Das RechtsRock-Geschehen in Thüringen bleibt mit 48 Musikveranstaltungen in 2024 auf hohem Niveau. (…) RechtsRock-Veranstaltungen fanden in 14 der 22 Landkreise und kreisfreien Städte Thüringens statt.“[8]
- 2. Beispiel Rechtsrock-Bands
Der Bericht versäumt es, einen konkreten Überblick über die neonazistische Musikkultur in Form von in Thüringen ansässigen Bands und Liedermachern zu präsentieren. Diese Erkenntnisse könnten dabei gerade hilfreich für kommunale Strukturen, private, aber auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anderer Landesbehörden sein, um präventiv extrem rechte Einmietungsversuche zu erkennen und abzuwehren. Dabei gibt es – wie eine Erhebung der Linksfraktion per Landtagsanfrage zeigt – eine massiv ansässige Musikstruktur in Thüringen mit 23 extrem rechten Bands und 10 Liedermachern[9]. Im VSB fehlt eine solche Darstellung, während das Landesamt für Verfassungsschutz in Brandenburg diese in seinem Jahresbericht zur Verfügung stellt.
- 3. Beispiel extrem rechte Immobilienstruktur
Im VS-Bericht 2024 werden unter den Kapiteln „Rechtsextremismus“ und „Reichsbürger“ „Szeneimmobilien“ wie das „Flieder Volkshaus“ in Eisenach und ein Objekt der Reichsbürger-Szene in Gera gelistet. Die tatsächliche Gefahr, die mit derartigen Immobilien einhergeht und die reale Dimension der extrem rechten Immobilienstruktur in Thüringen gehen aus dem Bericht nicht hervor. Wie eine Erhebung der Linksfraktion per Parlamentsanfrage offenbarte, sind Anfang 2025 ganze 21 Objekte als „Immobilien der rechten Szene Thüringens“ eingeordnet worden.[10] Auch hier bleibt der VSB 2024 hinter dem Anspruch einer öffentlichen Unterrichtung zurück, obwohl es für zahlreiche Menschen in Thüringen hilfreich wäre, zu wissen, ob in ihrer Nachbarschaft Immobilien der extremen Rechten existieren. In der Vergangenheit waren diese auch Ausgangspunkt für schwerwiegende Gewalttaten (z.B. in Ballstädt). Das Magazin „Zeit“ berichtete im Berichtszeitraum 2024 in einem Text darüber, dass in Thüringen deutschlandweit die drittmeisten Immobilien der Neonazi-Szene zu verorten sind. Andere Landesämter, wie z. B. das LfV Sachsen, stellen diese Immobiliendaten auch örtlich in ihrem Jahresbericht zur Verfügung. Im Thüringer Verfassungsschutzbericht fehlen diese Informationen.
- 4. Beispiel Digitale Räume
Auch andere Entwicklungen werden unterbeleuchtet dargestellt. Das extrem rechte „Freies Thüringen“ wird als „zentrale Mobilisationsplattform“ in zwei Sätzen in der Rubrik „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates (VDS)“ abgehandelt, ohne auf die Organisation, Hintergründe, Drahtzieher, Mobilisierungseffekte und ihre Bedeutung in Thüringen einzugehen. Dies, obwohl die Plattform seit der Corona-Pandemie allein auf Telegram auf fast 17.500 Abonnenten angestiegen ist und weiterhin auch auf zahlreichen Demonstrationen in Thüringen mit Flaggen wahrzunehmen ist, aber auch mit der AfD verzahnt ist. Zwar erkennt der Verfassungsschutz mit einem eigenen Unterkapitel „Digitale Plattformen als Operationsbasis für Islamisten“ diese Dimension an, stellt jedoch die zunehmenden digitalen Aktivitäten der gesamten Bandbreite der extremen Rechten in sozialen Medien nicht in angemessener Weise dar – obwohl gerade auch weibliche Influencerinnen aus Thüringen, die für die AfD trommeln, bundesweit signifikante Reichweiten erzielen.
- 5. Beispiel fehlender Blick auf weitere Formate der extremen Rechten
Maßgebliche Entwicklungen, wie extrem rechte Ideologien immer weiter in die Thüringer Gesellschaft – auch im ländlichen Raum – einsickern, darunter das Format der „AfD-Bürgerdialoge“, verschläft der Bericht. Ganze Personenspektren, welche die extreme Rechte in Thüringen mit ausmachen, fehlen gänzlich im Bericht. Burschenschaften werden lediglich als Opfer oder Beobachtungsobjekte unter „Linksextremismus“ erwähnt. Dass das Amt für Verfassungsschutz in Thüringen seit Jahren etwa die Burschenschaft „Normannia zu Jena“ als „rechtsextremistisch“ einordnet, findet sich nicht im Bericht. Genauso wenig wird die Bedeutung von Tattoo-Studios in der Neonazi-Szene erwähnt, obwohl dem Geheimdienst bekannt ist, dass mehrere in Thüringen Verbindungen zur extremen Rechten aufweisen. So registriert die Thüringer Polizei in den vergangenen Jahren allein acht Straftaten der PMK-Rechts, die sich an den Standorten der Tattoo-Studios des früheren Thüringer NPD-Landesorganisationsleiters (zeitweise auch AfD-Mitglied) in Eisenberg und Zeulenroda-Triebes ereigneten, darunter auch im Berichtszeitraum 2024. Während das ganze Berichtswesen des Verfassungsschutzes den Eindruck erweckt, dass Tattoo-Studios der extrem rechten Szene unterhalb des Radars des Verfassungsschutzes agieren können, gibt es auf Seiten der Justiz durchaus eine Sensibilität. So verwies das Verwaltungsgericht Weimar bereits im Vorjahr des Berichtszeitraums für die Begründung einer Waffenentziehung darauf hin, dass es auch als „maßgeblich“ für eine Unterstützungshandlung einer verfassungsfeindlichen Bestrebung gewertet werde, dass der Waffenbesitzer u.a. „ein Tattoostudio betreibt und über dessen Eingang mit rechtsextremistischen Symbolen (Algiz-Rune) geworben wird, sowie die Tatsache, dass er bereit ist, strafrechtlich relevante Motive und Symbole zu tätowieren (…)“[11].
7. Methodische Schwächen: Kategorien, Kontexte, Wahljahreffekt
Die methodische Anlage des Berichts trägt wesentlich zur Verzerrung bei. Erstens operiert er im linken Phänomenbereich außergewöhnlich einzelfallbezogen und mit ereignisnaher Darstellung bis hin zum Zitieren von Parolen, während er rechte Gewalt vorwiegend statistisch behandelt. Dieser Unterschied in der Darstellungstiefe erzeugt Wahrnehmungsasymmetrien, die mit der tatsächlichen Gefahrenlage in Thüringen nicht korrespondieren.
Zweitens werden bei der Einordnung von Deliktskategorien unterschiedliche Standards angelegt. Für rechte Kriminalität hebt der Bericht relativierend hervor, die Mehrzahl der Fälle seien Propagandadelikte. Für linke Kriminalität fehlt spiegelbildlich der Hinweis, dass „sonstige staatsschutzrelevante Delikte“ einen Löwenanteil in der PMK-Statistik ausmachen – insgesamt 92 % der PMK-Links-Fälle[12]. In dieser Kategorie finden sich vor allem Sachbeschädigungen, Beleidigungen und minderschwere Eigentumsdelikte.
Zugleich fehlt eine Einordnung zur Entwicklung der politisch motivierten Kriminalität in Thüringen, etwa Hintergründe dazu, dass es in Wahljahren in Thüringen (u.a. 2004, 2014, 2019, 2024) regelmäßig zu Steigerungen innerhalb der PMK kommt. Dazu gehören, neben gesteigerten Protest- und Konfrontationsgeschehen im Bereich „PMK-Links“, vor allem Anstiege bei Sachbeschädigungen, z. B. Aufkleber auf AfD-Büros (neben anderen Straftaten) oder entwendete, bemalte oder beschädigte Wahlplakate. Immer wieder finden sich derartige Delikte mit einer Zuordnung „Links“ in der Statistik, ohne dass es zwingend valide Anhaltspunkte für eine linke Motivation oder entsprechende Tatverdächtige gibt.[13]
Der Verfassungsschutzbericht wärmt in jedem Jahr die Zahlen der PMK erneut auf, die das Landeskriminalamt fünfeinhalb Monate zuvor schon für die Öffentlichkeit bereitgestellt hat. Jedoch unterlässt der VS-Bericht eine Darstellung, wie viele der dort dargestellten Fälle innerhalb der eigenen Behördenlogik tatsächlich „extremistisch“ sind und damit auch den gesetzlichen Auftrag des AfV nach § 4 ThürVerfSchG überhaupt berühren. In einer kleinen Fußnote räumt der Bericht auf S. 103 ein: „Die polizeiliche Kategorie ,PMK-Links‘ ist nicht auf nachweislich linksextremistische Straftaten begrenzt“, ohne transparent zu sagen, wie viele der Taten denn nun als „extremistisch“ und „nicht-extremistisch“ eingeordnet werden. Das Bundesinnenministerium stellte etwa in seinem Fact Sheet „Bundesweite Fallzahlen 2024 Politisch motivierte Kriminalität“ dar, dass deutschlandweit über 41 % der Fälle, die in der „PMK-Links“ landen, nicht als „extremistisch“ eingeordnet werden.
Die Zahl der Gewalttaten „Links“ in Thüringen 2024 entspricht exakt der Zahl im Landtagswahljahr 2019. Der Bericht versäumt es zudem, einzuordnen, welche Art von Delikten hier innerhalb der polizeiinternen Kategorisierung als PMK-Gewalt überhaupt erfasst werden: Neben tatsächlichen Körperverletzungen finden sich darin auch Widerstandsdelikte – nicht nur solche, bei denen ein „tätlicher Angriff“ (§ 114 StGB) stattfindet, sondern auch solche, bei denen einfacher Widerstand nach § 113 StGB vorgeworfen wird. Darunter kann beispielsweise das Festhalten an einem Geländer bei der Räumung einer Sitzblockade fallen, ohne dass aktiv Gewalt gegen Beamt:innen eingesetzt oder dieser verletzt werden.
Innerhalb der PMK-Kategorie „Politisch motivierte Gewaltkriminalität“ in Thüringen 2024 waren diese § 113-Widerstandsdelikte nach den Körperverletzungen das zweithäufigste Delikt – ohne dass in der Statistik unterschieden wird, wie sich diese nach Phänomenbereichen darstellen. In der Gesamtschau des Berichts fehlt eine qualitative Differenzierung und es entstehen Scheinkausalitäten, die wissenschaftlich nicht gedeckt sind, da Einordnungen etwa auch zu kurzfristigen Ausschlägen oder ihrem Kontext unterbleiben, was jedoch hilfreich wäre, um politisch motivierte Kriminalität im Kontext von Gefahren für die demokratische Kultur adäquat bewerten zu können.
8. Sprache, Framing und die Konstruktion von Bedrohung
Die sprachliche Gestalt der Kapitel vertieft die analytische Schieflage. Im Linksextremismus-Kapitel dominiert ein Vokabular der Alarmierung: Es ist von Gewaltbereitschaft, Radikalisierung, Konspiration, Eskalation und sogar von „Tötungsfantasien“ die Rede. Der Bericht dramatisiert Äußerlichkeiten – etwa die bei Demonstrationen verbreitete schwarze Kleidung – als „uniforme Kampfausrüstung“ und erzeugt so ein Bild einer permanenten Gewaltbereitschaft.
Demgegenüber werden rechte Strukturen häufig in einem Registrierstil verhandelt, der Akteursprofile entpersonalisiert und dynamische Prozesse depotenziert: Man liest von „Bestrebungen“, „Positionen“ und „Vorfeld“, während der Gewaltaspekt in knappe Sätze oder der allgemeinen Feststellung einer insgesamt hohen Gewaltbereitschaft innerhalb der extremen Szene gerinnt. Diese asymmetrische Semantisierung ist keine Stilfrage, sondern hat reale Auswirkungen: Sprache strukturiert, was als Gefahr gilt. Wo linke Akteure emotionalisiert und dämonisiert, rechte Akteure aber bürokratisch neutralisiert werden, entsteht ein Bias, der die reale Gefahr verschiebt.
Besonders deutlich wird das bei der AfD: Trotz „gesichert rechtsextremistischer“ Einstufung überwiegt in ihrer Darstellung das politisch-neutrale Vokabular von Mandatsträgerschaft, Fraktionsstärke und Wahlergebnissen, während Gewalt- und Bedrohungslinien aus ihrem Umfeld sprachlich entkoppelt bleiben. Allein die massiven Drohungen, Straftaten und Tötungsfantasien aus dem extrem rechten Spektrum gegen die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und ihren Leiter könnten den halben Verfassungsschutzbericht füllen, eine Erwähnung hierzu findet sich an keiner einzigen Stelle.
Der Bericht erhält damit eine tendenziöse Schieflage, obwohl die zur Verfügung stehende Datenbasis – sowohl durch die Zusammenarbeit mit anderen Behörden als auch durch die Sichtung zivilgesellschaftlicher und wissenschaftlicher Publikationen – ein realitätsnäheres Abbild ermöglichen könnte.
9. Extremismusbegriff: Hufeisen, Kurzschlüsse und analytische Blindstellen
Die konzeptionelle Achse des Berichtes ist der klassische Extremismusbegriff, oft hufeisenförmig gedacht und auch als Hufeisentheorie bekannt: links und rechts werden als symmetrische Gegenpole einer demokratischen, guten Mitte verstanden, die als vermeintlich neutraler Referenzpunkt fungiert. Sie vermischt dabei jedoch Ziele und Mittel (Ideologie vs. Regelverstoß), setzt etwa auch Sachbeschädigung in Form einer besprühten Wand und systematische Gewalt gegen Minderheiten begrifflich gleich und verwischt damit qualitative Unterschiede – etwa zwischen egalitär begründeter Gesellschaftskritik und hierarchisch-völkischer Ungleichwertigkeitsideologie.
Die Forschung zeigt zudem, dass Definitionen von „Extremismus“ hochgradig uneinheitlich sind und viele Messinstrumente geringe Validität besitzen; Zahlenreihen (z. B. PMK) taugen ohne Kontext nicht als Extremismus-Indikatoren. Umso problematischer ist, dass der Bericht bei der Übernahme der PMK-Zahlen keine Einordnung liefert. Zentral bleibt, dass rechte Gewalt in Häufigkeit, Schwere und Opferfokus in Thüringen seit Jahren deutlich überwiegt. Auch die Beratungsstelle ezra – Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen – zeichnet über Jahre systematisch, öffentlich und transparent diese Entwicklung nach.[14]
Zugleich blendet das Hufeisen autoritäre, rassistische und antisemitische Einstellungen aus der gesellschaftlichen „Mitte“ aus und verkennt damit wesentliche Ursachen demokratiefeindlicher Dynamiken. Das ist besonders absurd, da die Thüringer Staatskanzlei selbst jedes Jahr den „Thüringen-Monitor“ als Studie zu den politischen Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger des Freistaates Thüringen beim KomRex – dem Zentrum für Rechtsextremismusforschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration der FSU Jena – in Auftrag gibt, welcher empirisch über einen Zeitkorridor von nunmehr einem Vierteljahrhundert diese Dynamiken und Einstellungen auch in der sogenannten „Mitte“ nachweist.[15]
Dabei müsste man es spätestens seit der Corona-Pandemie besser wissen, als sich auf Thüringer Straßen neonazistische Akteure, liberale Politiker, konservative Wirtschaftsverbandsvertreter, AfD-Abgeordnete und alternative Naturheilkundler die Klinke in die Hand gaben, während antisemitische Stereotype und Verschwörungsmythen in den montäglichen Aufzügen immer wieder vorkamen. In Saalfeld führte etwa ein Fitnessstudiobetreiber die Aufzüge an, in die sich Neonazis aus alten Strukturen wie dem Thüringer Heimatschutz und Blood & Honour einreihten, vermischt mit bürgerlichem Klientel. Die Radikalisierung führte auch zu zahlreichen Angriffen auf Polizeibeamtinnen und -beamte. Der „Extremismusbegriff“, den der VSB als Grundlage verwendet, ist ungeeignet, diese Entwicklungen zu erfassen. Politisch problematisch delegitimiert der Ansatz zudem antifaschistisches Engagement regelmäßig pauschal als „extrem“ und verschiebt staatliche Aufmerksamkeit von Gefahrenanalyse hin zu Gesinnungsverwaltung.
Kurz: Die Theorie klärt nicht, sondern verdeckt – sie ist analytisch schwach, empirisch irreführend und verzerrt den Blick auf Demokratie und ihre Grundwerte. Lediglich im Thüringer Verfassungsschutzbericht des Jahres 2016 gab es einen zaghaften Versuch einer selbstkritischen Reflexion des Amtes, was die Begriffsnutzung betrifft. Dieser Impuls wurde in den Folgejahren sodann wieder unterbunden. Eine moderne Gefahrenanalyse sollte geeigneter demokratietheoretisch und menschenrechtlich ansetzen und zentrale Werte wie das Demokratieprinzip, Rechtsstaatsprinzip und die Achtung der Menschenwürde in den Mittelpunkt rücken – und nicht die geometrische Entfernung von einer imaginären Mitte.
10. Verfassungsfeinde im Dienst: rechte Vorfälle in Sicherheitsbehörden werden nicht thematisiert
Von erheblicher Tragweite ist die weitgehende Ausblendung extrem rechter Vorfälle innerhalb staatlicher Sicherheitsapparate. Für den Zeitraum 2022 bis 2024 sind allein 20 Fälle polizeilicher Ermittlungsverfahren bekannt, davon zehn im Berichtszeitraum, bei denen gegen Angehörige der Thüringer Polizei wegen des Verdachts von Straftaten aus dem Bereich rechts- bzw. rechtsextremistisch motivierter Kriminalität ermittelt wurde – darunter die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen (§ 86a StGB, in vier Fällen), Volksverhetzung (§ 130 StGB, in fünf Fällen) und verhetzende Beleidigung (§ 192a StGB, in einem Fall).
Innerhalb der Thüringer Polizei wurden zudem mehrere Disziplinarverfahren angestrengt, zum Beispiel[16]:
März 2024, LPI Gotha – „menschenverachtende Äußerung über Kopftuchträgerin“
Juli 2024, LPI Saalfeld – „Bezeichnung eines dunkelhäutigen Menschen als ‚Dachpappe‘“
Juli 2024, Polizeibildungseinrichtungen – „rassistische und menschenverachtende Äußerungen“
Juli 2024, LPI Gera – „Ausruf ‚Heil Hitler‘ im Dienst“
Über diese Informationen oder Teile davon wird die Öffentlichkeit durch den Bericht ebenso wenig in Kenntnis gesetzt wie über etwaige Zuarbeiten des Amtes für Verfassungsschutz für einen Lagebericht „Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden“ des Bundesamtes für Verfassungsschutz, vorgestellt im Juli 2025 mit Stand Mai 2024.
Die Zusammenstellung sollte sich mit dem Verdacht auf Bezüge zum Rechtsextremismus, zur „Reichsbürger“- und „Selbstverwalter“-Szene und zur „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ bei Mitarbeiter:innen im öffentlichen Sicherheitsbereich auseinandersetzen. In Thüringen resümiert das BfV vier Fälle von Behördenmitarbeitern, von denen drei als „rechtsextrem“ und einer als „Reichsbürger“ eingeordnet wurden. Lediglich in einem einzigen Fall kam es zu einer Entlassung. Zudem wurde im Vorjahr bekannt, dass ein BND-Mitarbeiter in Thüringen AfD-Mitglied war, der Nachrichtendienst erteilte ihm ein Hausverbot. Im Bericht fanden sich dazu gleichfalls keine Informationen.
Solche Fälle sind gefährlich: Sie beschädigen das Vertrauen in den Rechtsstaat und erhöhen die Handlungsspielräume organisierter extrem Rechter. Deutlich problematischer ist es jedoch, wenn diese Fälle nicht auch genauso Teil einer öffentlichen Betrachtung jener Institution werden, die dafür schließlich auch 8 Millionen Euro Steuermittel erhält. Der VSB 2024 schweigt jedoch dazu. Ein Bericht, der den staatlichen Schutz- und Informationsauftrag ernst nimmt, müsste diese Problemlage zumindest in Grundzügen adressieren, als Lagebild, als Selbstvergewisserung, als Signal, dass man die eigenen Verwundbarkeiten kennt und bearbeitet.
Gerade weil auch das AfV selbst davon nicht ausgenommen ist: Die Leitung selbst berichtete in einem SWR-Interview vor einigen Jahren von einer Handvoll Mitarbeitender (von rund 100 Beschäftigten), die „offene oder eher heimliche Sympathien“ für die rechte Szene haben.
11. Alles Extremismus? Über die Ausdehnung des gesetzlichen Beobachtungsauftrages
An mehreren Stellen erscheint eine Erwähnung im Bericht fraglich, beispielhaft dafür wird im Kapitel Linksextremismus auf S. 80 etwa die „Freie Arbeiterinnen und Arbeiter-Union“ (FAU) genannt, die in Thüringen „in geringem Umfang“ vertreten sei und „regelmäßig Sprechzeiten“ in einem Lokal anbiete. Der Verfassungsschutzbericht stellt dazu fest: „Sie unterstützte einen ‚Klima-Aktivisten‘ im Nachgang zu seiner Kündigung erfolgreich im Arbeitsrechtsstreit mit der Universität Jena.“ Der Bericht konkretisiert jedoch nicht, dass es sich bei der Gruppe um eine nach eigenen Angaben „selbstorganisierte Gewerkschaft“ handelt, die auch eine „gewerkschaftliche Sprechstunde“ anbietet. Er stellt ebenso nicht dar, warum es sich dabei um eine verfassungsfeindliche Bestrebung handeln soll.
Offenkundig wurde im Rahmen der im Rechtsstaat vorgesehenen Wege rechtskonform vor dem Arbeitsgericht Gera nach § 256 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) eine Feststellungsklage eingereicht. Die beklagte Seite erkannte diese am Ende an und zahlte unter anderem ausstehende Löhne in Höhe von ca. 17.500 Euro. Auf der Internetseite der Gruppe finden sich für den Berichtszeitraum weitere gewerkschaftlicher Publikationen, unter anderem ein Text unter der Überschrift „Gewonnene Arbeitskonflikte aus dem Dezember 2024“ über weitere arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen, teils auch mit Verhandlungen vor ordentlichen Gerichten und mit Erfolg. Im Verfassungsschutzbericht wird nicht erkennbar, warum Klima-Aktivismus oder das Einstehen für geltendes deutsches Arbeitsrecht eine verfassungsfeindliche Bestrebung im Sinne der Aufgaben des Amtes nach § 4 ThürVerfSchG darstellen sollen. Dass der Verfassungsschutz in dieser Weise Arbeitnehmer-Vereinigungen durch einen an der Stelle substanzlosen „Extremismus“-Verdacht zu beschränken und zu behindern versucht, steht in Widerspruch zum besonderen Schutz solcher Vereinigungen aus Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Auch an anderen Stellen wird die Wahrnehmung von Rechten nach bundesdeutschen Gesetzen thematisiert und in einen verfassungsfeindlichen Kontext gestellt. Obwohl § 163a Abs. 4 der Strafprozessordnung allen Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland ein Aussageverweigerungsrecht zubilligt, wenn sie mutmaßlich Straftaten verdächtigt werden, dokumentiert der Bericht eine Empfehlung der „Roten Hilfe Erfurt“ an Betroffene von strafprozessualen Maßnahmen in Gera, gegenüber den Behörden „ruhig“ zu bleiben und sich „nicht zu den Vorwürfen“ zu äußern, obwohl nahezu jede bei der Rechtsanwaltskammer Thüringen zugelassene Strafverteidigerin und jeder Strafverteidigerseinen Mandant:innenzunächst den identischen Ratschlag erteilen würde.
Weitere Ereignisse, die es im Verfassungsschutzbericht in die Rubrik Linksextremismus schafften, waren dabei auch eine „Filmvorführung zur politischen Repression gegen die oppositionelle Bewegung in der Türkei“ sowie ein Camp unter dem Motto „Gemeinsam gegen Rechts, für ein Klima der Gerechtigkeit“, das „neben Klimathemen den inhaltlichen Schwerpunkt ,Antifaschismus‘ habe und ‚Angebote für politische Bildung, Wissensaustausch, Vernetzung und Strategieprozesse‘“ lieferte, wie es im Bericht heißt.
12. Zivilgesellschaft im Fokus – Fallbeispiel problematischer Einordnung
Fragwürdig erscheint die Methodik auch an anderen Stellen im Kapitel „Linksextremismus“. Auf S. 95/96 findet sich eine Darstellung von Protesten gegen eine AfD-Wahlkampfveranstaltung in Jena. Hierzu hatten sich 2.000 Personen versammelt, aus Sicht des Verfassungsschutzberichts auch „zahlreiche Linksextremisten“. Vor Ort kam es zu vielfältigen und bunten Protesten, aber auch Sitzblockaden durch Hunderte Menschen. Im Bericht des Verfassungsschutzes heißt es dazu:
„Das Protestgeschehen war von massenhaftem zivilem Ungehorsam geprägt, der in vorsätzlich ausgeübten, gewaltsamen Widerstand gegen das staatliche Gewaltmonopol mündete. Gewaltfreier, demokratischer Protest ging — offenbar ohne jede Kritik aus diesem Teilnehmerkreis — unter. Es bleibt festzuhalten, dass in dem konkreten Fall eine Vernetzung zwischen Autonomen, nicht gewaltorientierten Linksextremisten und nicht extremistischen Akteuren erreicht wurde, was letztlich eine zunehmende Akzeptanz in der Zivilgesellschaft für die autonomen Ziele und Aktionsformen ausdrückt.“
Diese Darstellung enthält eine Verzerrung und Dramatisierung, die sich mit der Wirklichkeit nicht deckt. Tatsächlich kam es zu friedlichem, lautstarkem und buntem Protest auf vielfältige Weise mit unterschiedlichsten kreativen Mitteln aus allen gesellschaftlichen Schichten. Bei dem massenhaften zivilen Ungehorsam handelte es sich gerade nicht um gewalttätige Verläufe, sondern um vorwiegend gewaltfreie Proteste und Sitzblockaden, wie sie seit 20 Jahren auch Teil der Protestkultur in der Lichtstadt sind. Zahlreiche Fotos, Videos und Presseberichte unterstreichen dies — beispielhaft auch ein Beitrag des Lokalsenders JenaTV vom 21. August 2024[17] sowie andere Aufnahmen[18], die Familien mit Kindern, Menschen mit selbstgemalten Plakaten und Schildern, Sitzproteste oder Protestierende mit Musikinstrumenten zeigen.
Zu den Protesten hatten unter anderem der DGB, Vertreter der Kirchen, Theatergruppen und der Paritätische Wohlfahrtsverband aufgerufen. Eine Online-Lokalzeitung schrieb: „Unter den Demonstranten befanden sich nicht nur Bürgerinnen und Bürger, sondern auch Bundestags- und Landtagsabgeordnete, Oberbürgermeister Thomas Nitzsche, Mitglieder des Stadtrates sowie Vertreter von Sozialverbänden.“ Es lagen drei Versammlungsanmeldungen gegen die AfD-Veranstaltung vor, darunter die des Bündnisses „Rechtsruck stoppen“, des Bündnisses „Jena weltoffen“ und eine der SPD Jena. Auch die Landespolizeiinspektion Jena resümierte nach Einsatzende um 22:22 Uhr in ihrer Mitteilung ein „breites Protestbündnis in Form von mehreren beauflagten Versammlungen“.
Richtig ist, dass die AfD-Veranstaltung nicht wie geplant durchgeführt wurde und sich mehrere Sitzblockaden ereigneten. Der Verfassungsschutzbericht überzieht hier jedoch seine Bewertung und lässt Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts völlig außer Acht. Das Gericht hat bereits im sogenannten Brokdorf-Beschluss 1985 betont, dass die Versammlungsfreiheit für die demokratische Ordnung „schlechthin konstituierend“ ist und daher von den Behörden besonders schonend zu behandeln ist. Vor diesem Hintergrund hat es später im Jahr 1995 klargestellt, dass auch Sitzblockaden — die häufig als Formen zivilen Ungehorsams angesehen werden — grundsätzlich unter Art. 8 GG fallen können. In einer weiteren Entscheidung („Fraport“) 2011 wurde festgehalten, dass die Versammlungsfreiheit auch unbequeme oder störende Meinungsäußerungen schützt und eine weite Auslegung des Versammlungsbegriffs geboten ist, worunter auch provokative Protestformen zählen[19].
Richtig ist auch, dass sich Straftaten im Umfeld der AfD-Veranstaltung ereignet haben bzw. die Thüringer Polizei insgesamt zwölf Strafanzeigen aufgenommen hat, darunter auch eine aus dem Bereich PMK-Rechts. Aufgabe des Berichtes wäre es jedoch, diese auch sauber einzuordnen, das heißt u.a. im Verhältnis zur Zahl der Versammlungsteilnehmer und zum Gesamtgepräge des Versammlungsgeschehens. Hier weicht die alarmistische Beschreibung im Bericht jedoch deutlich ab („gewaltfreier, demokratischer Protest ging unter“) und enthält eher den Charakter eines subjektiven Meinungsbeitrages anstatt einer validen Aufbereitung in einem Behördendokument. Durch die Art und Weise der Darstellung diskreditiert der Bericht zivilgesellschaftliches Engagement in Thüringen.
13. Blindstellen im Berichtswesen: Verschwiegenes, Verzerrtes, Verschätztes
Weitere Darstellungen im Bericht sind fragwürdig, so stellt sich etwa die Frage, warum sich der Verfassungsschutzbericht über wesentliche Ereignisse in Bezug auf seine Tätigkeit im Berichtszeitraum ausschweigt, die für die Öffentlichkeit von Interesse wären. Etwa die Information darüber, dass das Amt für Verfassungsschutz im Berichtszeitraum über 513 „stille SMS“ an drei betroffene Personen verschickt hat, um Bewegungsprofile zu erzeugen und heimlich über deren Handys Standortdaten zu generieren. Die Preisgabe dieser Information stellt weder eine Sicherheitsgefahr dar noch gefährdet sie die Arbeitsweise der Behörde, weshalb die Linksfraktion diese hilfsweise manuell per Parlamentsanfrage erhebt.[20]
Fraglich ist auch, warum die Information über den Beschluss des Thüringer Oberverwaltungsgerichts vom 19. Februar 2024 (Az. 3 EO 453/23) im Bericht fehlt, der dem Thüringer Amt für Verfassungsschutz im Kern eine mangelhafte Zuarbeit an die Untere Waffenbehörde des Landkreises Saale-Orla-Kreis bescheinigte, als es darum ging, einem AfD-Anhänger eine Schusswaffe zu entziehen. Das Amt hatte es versäumt, konkrete Belege für aggressive oder kämpferische Aktivitäten des AfD-Landesverbands an die kommunale Gebietskörperschaft zu liefern, weshalb eine Waffenentziehung wegen der Mitgliedschaft in der AfD durch das Gericht untersagt wurde und aufwendigere Einzelprüfungen nötig wurden. Nach über zehn Jahren Thüringer AfD gibt es dabei längst eine Vielzahl an Belegen, die auch Zivilgesellschaft, Medien und Wissenschaft herausgearbeitet haben.
Gleichwohl resümierte das OVG in der Entscheidung bei summarischer Gesamtbetrachtung: „Es gibt gewichtige Anhaltspunkte für die Annahme, dass der AfD-LV Thüringen verfassungsfeindlich ausgerichtet ist.“ Ein juristischer Teilerfolg für die Vertreter:in des öffentlichen Interesses beim Thüringer Innenministerium bzw. des AfV, womit erstmals oberverwaltungsgerichtlich die AfD entsprechend eingeordnet wurde. Auch hierzu findet sich keine Erwähnung im Bericht.
Der Bericht stellt ferner dar, dass sich das Personenpotenzial „gewaltorientierter Linksextremisten“ von 150 auf 190 erhöht haben soll. Wie er zu dieser Schätzung kommt, lässt er jedoch offen. Im Jahresbericht 2023 etwa wurde eine Gruppierung mit dem Namen „Undogmatische radikale Linke Jena“ (URJ) als Teilmenge unter den 140 „Autonomen“ gezählt. Im Jahresbericht 2024 ist dieselbe Gruppe mit 20 Mitgliedern aus Sicht des Amts für Verfassungsschutz plötzlich nicht mehr „autonom“, sondern hat sich offenbar über Neujahr zu „postautonom“ verwandelt und wird in eine entsprechend neugeschaffene Kategorie manövriert, während gleichzeitig die Teilmenge „autonom“ nicht um -20 sinkt, sondern um +10 steigt.
Inwiefern es darüber hinaus zu einem Anstieg der Personenzahl bei „autonom“ gekommen sein soll, kann der Bericht nicht stichhaltig begründen. Bereits in der Vergangenheit fielen die Thüringer Verfassungsschutzberichte durch fragwürdige Personenpotenzial-Bezifferungen auf. So wurde über alle Berichte hinweg in einem Zeitraum von 14 Jahren zwischen 2007 und 2021 behauptet, dass es keinerlei Änderungen am „autonomen“ Personenpotenzial in Thüringen gegeben habe: Es seien jedes Jahr exakt immer „130 Autonome“ im Freistaat gewesen. Veränderungen in den Biografien und Vorstellungen, Ausbildung, Studium, Wegzüge, Familienplanung oder Ummeldungen in andere Bundesländer scheint es aus der Behördenlogik heraus nicht gegeben zu haben — ein Umstand, der wenig mit der Lebensrealität vor allem junger Menschen in Thüringen zu tun hat.
14. Mangelhafter Verfassungsschutzbericht kann gesellschaftliche Abwehrkräfte nicht stärken
Der VS-Bericht verfehlt die geschilderten Ansprüche und ist in Teilen intransparent, weil er die große Welle rechter Gewalt nicht konkret benennt und damit auch Opfer rechter Gewalt in Thüringen im Stich lässt. Er ist unausgewogen, weil er linke Delikte überhöht, während er rechte Delikte abstrakt verknappt. Die Folge ist ein Lagebild, das die Frühwarnfunktion nur eingeschränkt erfüllt und gesellschaftliche Abwehrkräfte nicht stärkt, sondern eine Erosion demokratischer Kultur in Thüringen eher noch befördert.
Positiv ist, dass der Bericht 40 Tage früher als im vergangenen Jahr erscheint, sich an der Ideologie der AfD abarbeitet und diesmal auch einen Abschnitt über rechte Jugendgruppen enthält. Gleichwohl ist er dabei weder vollständig noch taugt er damit als Frühwarninstrument, da gerade über derartige Jugendgruppen bereits hinreichend andere Akteure berichtet hatten – darunter antifaschistische Rechercheportale oder auch die fortlaufende Reihe „Thüringer Zustände“, die sich zivilgesellschaftlich und wissenschaftlich alljährlich mit einer faktenbasierten Darstellung und kritischen Einordnung von extremer Rechter, Antisemitismus und Rassismus, Abwertung, Diskriminierung und Hassgewalt im Freistaat Thüringen befasst.[21] Diese Publikation sei allen Leserinnen und Lesern des VSB 2024 empfohlen.
Der Bericht liefert auch keinerlei Anhaltspunkt dafür, weshalb das Amt für Verfassungsschutz zusätzliche Stellen zugewiesen bekommen sollte. Es mangelt bereits an einer nachvollziehbaren Erklärung, warum das Amt seit vielen Jahren konstant 10 Stellen nicht besetzen kann. Weitere zusätzliche unbesetzte Stellen leisten hier zudem keinen wirksamen Beitrag für mehr Sicherheit.
Verfassungsschutzberichte haben meinungsbildende Macht. Sie sind Referenz in Redaktionen, in Sicherheitskonferenzen, in kommunalen Gremien, in der Regierung und im öffentlichen Dienst. Ein solcher Bericht, der die Hauptgefahr in Teilen relativiert und Gegenwehrpotenziale durch Diskreditierung schwächt, bildet die Realität nicht adäquat ab. Wenn linke Protestformen pauschal in den Extremismuskontext gerückt werden, während rechte Gewalt anonymisiert, depersonalisiert und dekontextualisiert wird, begünstigt das eine gefährliche Normalisierung. Es stärkt jene, die das demokratische Gemeinwesen von innen aushöhlen wollen und schwächt jene, die es – auch laut – verteidigen. In einem Land, das die Folgen staatlicher Fehleinschätzungen im NSU-Komplex schmerzhaft erlebte und in dem eine völkische extrem rechte Partei in Umfragen auf über 37 % kommt, ist das mehr als ein redaktionelles Problem, es ist eine Frage der demokratischen Resilienz.
[1] Seite 35, im 1. Absatz
[2] verteilt über die Seiten 86 bis 98
[3] exemplarisch aus der Jahreschronik Ezra Opferberatung 2024 basierend auf Meldungen der LPI Gera und LPI Jena, Persönlicher Kontaktaufnahme und Videodokumentation
[4] Seite 94
[5] siehe auch Antwort der Landesregierung auf Kleine Anfrage, Drucksachennummer 8/491
[6] Taz vom 7.11.2024
[7] siehe auch Antwort der Landesregierung auf Kleine Anfrage, Drucksachennummer 8/440
[8]mobit.org/ns-verherrlichung-und-abschiebe-partystimmung-rechtsrock-in-thueringen-2024/
[9] siehe auch Antwort der Landesregierung auf Kleine Anfrage, Drucksachennummer 7/10423, Stand 2023
[10] siehe auch Antwort der Landesregierung auf Kleine Anfrage, Drucksachennummer 8/682
[11] VG Weimar Az. 1 S 1321/23 We; siehe auch Abschlussbericht UA 7/3 Sondervotum Linksfraktion; DS 7/10212
[12] 889 der 960 PMK-Links Delikte in Thüringen 2024: sonstige staatsschutzrelevante Delikte (PMK 2024 Thüringen, S. 12)
[13] Entsprechende Verzerrungen werden beim Umgang mit zerstörten Wahlplakaten deutlich: in der Anlage „Kategorienschema und Fallbeispiele zu Nummer 14 (Extremismus) der KTA-PMK“, die als Anhang zum Definitionssystem politisch motivierte Kriminalität aufgeführt sind, wird die Zerstörung von Wahlplakaten „einer rechtspopulistischen Partei“ als Beispiel genannt und eindeutig dem Bereich PMK-links- zugeordnet, weil das Zerstören von Wahlplakaten rechtspopulistischer Parteien „typisch für die linksextremistische Szene“ sei (S. 22). Ob die verursachende Person tatsächlich konservativ, liberal, links oder völlig anders politisch einzuordnen ist, ob es sich um eine politisch-intendierte Aktion handelt oder ob Vandalismus handlungsleitend war, ob es sich um Kinder mit Übermut und Langeweile oder Senioren, um frustrierter Anwohner oder alkoholisierte Personen handelt, all das spielt dann keine Rolle, das Fallbeispiel unterstellt eine typische Zuordnung mit einer eindeutigen Motivation im Regelfall. Entsprechende Zuordnungen für die Zerstörung von Wahlplakaten anderer Parteien finden sich unter den Beispielen übrigens nicht. Für Thüringen lässt sich entsprechend in den Fallzahlen der PMK-Statistik in Jahren mit Wahlen zum Bundes- oder Landtag in der Regel ein Anstieg bei den „sonstigen staatsschutzrelevanten Delikten“ im Bereich PMK-links- sowie im Bereich PMK-nicht zuzuordnen- feststellen.
[14]ezra.de/wp-content/uploads/2025/04/2025-04-03_ezra_Jahresstatistik-2024_Pressemappe_ohne-Kontakte.pdf
[15]thueringen.de/regierung/th-monitor
[16] siehe auch Antwort der Landesregierung auf Kleine Anfrage, Drucksachennummer 8/439
[17]www.youtube.com/shorts/AYY935nE1Ss
[18]www.jenaer-nachrichten.de/images/stadtleben/fotosammlung/2024/jul_aug_se/Wegen_Gegenprotest_Kein_Auftritt_von_Hoecke_in_Jena/Wegen%20Gegenprotest_Kein%20Auftritt%20von%20Hoecke%20in%20Jena_09.jpg
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www.jenaer-nachrichten.de/stadtleben/24573-gegenprotest-verhindert-auftritt-von-hoecke-in-jena
[19] BVerfG, Beschl. v. 14.05.1985 – 1 BvR 233/81 u. a., BVerfGE 69, 315; BVerfG, Beschl. v. 10.01.1995 – 1 BvR 718/89, BVerfGE 92, 1; BVerfG, Beschl. 07.03.1995 - 1 BvR 388/05
[20] siehe auch Antwort der Landesregierung auf Kleine Anfrage, Drucksachennummer 8/1418
[21] https://www.idz-jena.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Thueringer_Zustaende/ThueringerZustaende2024-web.pdf
Herausgegeben wird diese Publikation von ezra – Beratung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen, von MOBIT – Mobile Beratung in Thüringen – für Demokratie – gegen Rechtsextremismus, vom KomRex – Zentrum für Rechtsextremismusforschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration der Friedrich-Schiller-Universität Jena und vom IDZ – Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft.
Hier können Sie den Realitätscheck als PDF herunterladen
Legende zum Titelbild/Balkendiagram: Entwicklung rechter Straftaten bis 2024 in Thüringen (auf Basis der polizeilichen Erfassung und Aufbereitung durch das Landeskriminalamt Thüringen), die zugleich auch Ausdruck einer veränderten politischen Kultur und zunehmenden Radikalisierung sind, im Bericht des Geheimdienstes jedoch nur unzureichend dargestellt und eingeordnet werden, insbesondere mit Blick auf die massiven Gewalttaten.


