Thüringer Sommertheater beim MDR: Viel Lärm um nichts

Das ist investigativer Journalismus in den Farben des MDR: da wird am 30. Juli eine vermeintlich sensationelle Meldung lanciert. Kersten Steinke, Spitzenkandidatin der Partei DIE LINKE in Thüringen zur Bundestagswahl 2013, habe „vor Vertretern der ehemaligen "bewaffneten Organe" der DDR in Erfurt um Stimmen geworben“. Verantwortliche Redakteure für den Beitrag sind Jan Schönfelder von der „Content-Rechercheredaktion“ des MDR, ein promovierter Historiker, sowie der promovierte Arzt Rainer Erices, beide seit 1999 im Dienst der Rundfunkanstalt. Doch schon die Überschrift ist glatte Manipulation: „Heimlicher Auftritt vor DDR-Altkadern“ (1).
Der MDR hat bei dem Thema schlecht recherchiert, dafür kräftig die Skandaltrommel gerührt. Die Veranstaltung selbst hat schon am 25. Juli stattgefunden, die Geschichte lag dann beim MDR, der genug eigene Erfahrungen mit Skandalen hat, ein paar Tage auf Halde. Dass Jan Schönfelder gern Stöckchen hinhält, über die andere springen sollen – er beschäftigte sich auch schon mit DDR-Fahnen während einer Veranstaltung in Buchenwald, zu denen sich dann Politiker der LINKEN erklären sollten –, entbindet ihn und Enrices nicht von der Pflicht, solide zu recherchieren.
ISOR ist die „Initiativgemeinschaft zum Schutz der sozialen Rechte ehemaliger Angehöriger bewaffneter Organe und der Zollverwaltung der DDR e. V.“, im eigenen Selbstverständnis „ein in der Öffentlichkeit wirkender parteienunabhängiger Sozialverein“ (2). Der Verein wurde im Juni 1991 gegründet und im Folgejahr im Vereinsregister des Amtsgerichts Berlin-Charlottenburg eingetragen. Er schließt in der Satzung für seine Mitglieder ausdrücklich „eine gleichzeitige Mitgliedschaft in Organisationen, deren Tätigkeiten verfassungsfeindlich sind“, aus (3). Hauptforderung von ISOR: die Anerkennung der in der DDR „rechtmäßig erworbenen Renten- und Versorgungsansprüche bis zur Beitragsbemessungsgrenze“ (4). Die Themen von ISOR sind keine isolierten: Dass die Versorgung der in die Bundeswehr übernommenen Berufssoldaten mit Vordienstzeiten in der NVA regelmäßig beträchtlich hinter dem Versorgungsniveau eines vergleichbaren Soldaten mit ausschließlicher Dienstzeit in der Bundeswehr zurückbleibt, kritisiert auch der Deutsche Bundeswehrverband und fordert Veränderung.
Bei dem vermeintlich vom MDR aufgespürten Geheimtreffen handelte es sich um die offizielle Jahresmitgliederversammlung der regionalen ISOR-Gruppierung in Erfurt, angekündigt in der Mitgliederzeitung (5). Kersten Steinke war nicht als Vorsitzende des Petitionsausschusses des Bundestages eingeladen, sondern als „Spitzenkandidatin der Partei DIE LINKE, um über das Wahlprogramm für die Bundestagswahl zu berichten und Fragen unserer Mitglieder zu beantworten“. Dass die Fragen an die eingeladene Abgeordnete auch deren Arbeit im Petitionsausschuss betreffen würden, ist alles andere als ungewöhnlich – hat ISOR doch eine Petition zum Rentenrecht eingereicht, ein entsprechender klarer Hinweis von Kersten Steinke wird im MDR-Beitrag im Konjunktiv relativiert.
Die Petition vom Januar 2010 fordert die Beseitigung der Regelungen der §§ 6, Abs. 2, und 7 des Gesetzes zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen des Beitrittsgebiets (AAÜG), die ISOR für diskriminierenden hält (6). Sie fand die Unterstützung von fast 74.000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern - deutlich mehr als die laut ISOR etwa 22.000 Mitglieder.
ISOR wurde zu der Petition im November 2010 im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages offiziell angehört. Darüber existiert sogar ein Videomitschnitt in der Mediathek der Homepage des Bundestages (7). Die Sitzung leitete als Ausschussvorsitzende Kersten Steinke.
Das Rentenrecht  wird auch von der Partei DIE LINKE aus gutem Grund seit Jahren kritisiert. Denn bei der Zusammenführung der Alterssicherungssysteme der DDR mit dem bundesdeutschen Rentensystem entstanden eine Reihe von Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen, von denen insgesamt hunderttausende Menschen betroffen sind. Deutschland ist auch 23 Jahre nach der Wiedervereinigung rentenrechtlich noch geteilt. Die Fraktion DIE LINKE im Bundestag hat ebenso wie bis 2005 die PDS-Fraktion in jeder Wahlperiode eine Beseitigung der Renten- und Versorgungsungerechtigkeiten verlangt. Allein in der laufenden Wahlperiode wurde ein Antragspaket mit 19 parlamentarischen Initiativen eingereicht, die die Fraktion gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertreter von Verbänden, zumeist selbst Betroffenen, erarbeitet hat (8).
Bei als besonders „staatsnah“ eingestuften Versicherten wurde willkürlich in die Rentenformel eingegriffen – ein historisch einmaliger Akt in der Geschichte der deutschen Sozialgesetzgebung, wie die Linksfraktion in einem weiteren Antrag zur Rentenpolitik schreibt (9). Das sei im Mai 2011 sogar vom Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen kritisiert worden. Der MDR sieht das offenbar ganz anders. Steinkes Kritik an der „Strafrente“ wird als eine Art Pfui-Wort distanzierend in Anführungszeichen gesetzt.
Die Linkspartei hat sich auch dem Thema der Opferrente nicht verschlossen. Im Gegenteil: Die Fraktion DIE LINKE im Bundestag legte in der vergangenen Wahlperiode einen eigenen Gesetzentwurf vor, der eine Opfer-Rente vorsah, die unabhängig von den aktuellen Einkommen der Betroffenen gewährt werden sollte (10). Er umfasste im Unterschied zum Entwurf der damaligen Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP zudem weitere Gruppen von Menschen, die in der DDR politisch verfolgt wurden. Bundestags-Vizepräsidentin Petra Pau hat sich dazu im Juni 2007 im Bundestag geäußert: „wer Anspruch auf eine Opferrente hat, sollte diese möglichst unbürokratisch erhalten können, in angemessener Höhe und ohne Verrechnung mit anderen Bezügen.“
Dass nach dem MDR-Bericht die üblichen Verdächtigen aus dem Politikbetrieb auftauchen würden, überrascht wenig, eher schon die Intensität der schäbigen Attacken,  die sich nicht mehr nur mit politischen Zuspitzungen in Wahlkampfzeiten erklären lassen. Patrick Kurth von der FDP schoss mit seinem denunziatorischen Tweet, der behauptet, Kersten Steinke sei wegen der ISOR-Veranstaltung als Vorsitzende des Petitionsausschusses „untragbar“ (11), allerdings ein peinliches Eigentor. Im aktuellen Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP (Titel: „Wachstum. Bildung. Zusammenhalt.“), heißt es nämlich: „Wir führen in dieser Legislaturperiode ein einheitliches Rentensystem in Ost und West ein.“ (12) Es blieb beim Renten-Versprechen, die Ostrentner wurden von CDU, CSU und FDP um die versprochene Angleichung betrogen. Wortbrüchig geworden sind Angela Merkel und ihre derzeitige Regierungskoalition aus Union und Kurths Partei FDP. Doch anstatt sich für diesen Renten-Wortbruch zu schämen, spielt der Bundestagsabgeordnete Kurth sich noch zum Moralapostel auf.
Auch der FDP-Hinterbänkler Peter Röhlinger verfügt anscheinend über wenig Selbstreflektion. Er avanciert – da er Mitglied im Petitionsausschuss des Bundestages ist – im MDR-Bericht gleich zu einem Kronzeugen gegen Steinkes Teilnahme an der Veranstaltung in Erfurt. Es werde Zeit, dass die Wähler über solche Verbindungen informiert würden, zitiert ihn der MDR. Vielleicht sollte Röhlinger mehr daran setzen, die Öffentlichkeit über seine eigene „parlamentarische  Arbeit“ zu informieren, über die – falls sie überhaupt noch stattfindet – man schon seit Jahren nichts mehr wahrnimmt. Röhlinger hat in der Abstimmung der Rentenanträge der Linksfraktion im Februar 2011 immerhin für zwei der Anträge gestimmt.
Mario Voigt von der CDU lässt in seiner Reaktion den Geifer ungezügelt fließen. Der Generalsekretär der CDU Thüringen musste seiner Chefin Christine Lieberknecht, Ministerpräsidentin und CDU-Landesvorsitzende, wohl besonders heftig beispringen, hat sie doch die peinliche Affäre um ein lebenslanges Ruhegehalt für ihren Vertrauten Peter Zimmermann direkt zu verantworten. Da werden Politistrategen wie Voigt leicht nervös. „Frau Steinke ist das wahre Gesicht der alten umetikettierten  Stasi-PDS.“, wütete er in einer Pressemitteilung (13). Damit nicht genug, hetzte der wegen einer rassistischen Wahlwerbung als „Bratwurst-Mario“ berüchtigte CDUler, Kersten Steinke sei jetzt „parlamentsunwürdig“. Wer wie Voigt die Diskussion über eine Petition zu solchen diffamierenden Maßlosigkeiten ausbeutet, wer früheren Funktionsträgern der DDR 23 Jahre nach deren Ende das Recht auf Teilnahme an politischen Debatten in der Demokratie rundweg abspricht, wer Parlamentswürdigkeit von Wohlverhalten im Sinne der CDU abhängig macht, steht wohl nicht auf dem Boden des Grundgesetzes, möglicherweise nicht einmal auf dem des gesunden Menschenverstandes.
Bleibt der peinliche Auftritt des Steffen-Claudio Lemme von der SPD beim MDR. Lemme sitzt auch im Petitionsausschuss des Bundestages. Wenigstens manchmal. Der SPD-Abgeordnete sei in den Sitzungen selten anwesend, sagen Insider. Lemme kritisiert Kersten Steinke – die im selben Wahlkreis wie er als Direktkandidatin zur Bundestagswahl antritt. Ihre Teilnahme an der ISOR-Veranstaltung sei „ein starkes Stück“. Warum, lässt er offen. Hat er sich so auch während der Anhörung von ISOR im Petitionsausschuss geäußert? War er überhaupt anwesend? Außerdem müsse Steinke als Ausschussvorsitzende eine „unparteiische Rolle“ einnehmen, belehrte Lemme aufdringlich. Woher er wissen will, dass sie das nicht getan hat, sagt er nichts. Und schließlich würden sich auch SED-Opfer vertrauensvoll an den Petitionsausschuss wenden, erläuterte Lemme. Pikant: Während seiner Berufstätigkeit in der DDR hatte er als Mitarbeiter einer Jugendherberge, die Reisegruppen aus der Bundesrepublik als Gäste aufnahm, eigene einschlägige Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit den „Schutz- und Sicherheitsorganen“ gesammelt.

(1) www.mdr.de/thueringen/mitte-west-thueringen/kersten_steinke_isor102.html.
(2) www.isor-sozialverein.de Unterseite: „Wer ist ISOR“
(3) www.isor-sozialverein.de Unterseite: „Satzung“
(4) www.isor-sozialverein.de Unterseite: „Was will ISOR“
(5) ISOR aktuell Nr. 6/2013. www.isor-sozialverein.de Unterseite: „ISOR aktuell“
(6) www.isor-sozialverein.de Unterseite: „Aktuelles“, Eintrag vom 29.1.2010: „Pressemitteilung“
(7) dbtg.tv/cvid/851777 Die Petition wird als Tagesordnungspunkt 2 ab etwa 1:19 behandelt, zu Beginn geht es in der Sitzung um eine Petition zur Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens.
(8) www.linksfraktion.de/themen/rentenueberleitung-ost/ Die Anträge finden sich auch in der Broschüre „Für Korrekturen bei der Überleitung der Alterssicherungen der DDR in bundesdeutsches Recht“, die auf der angegebenen Seite heruntergeladen werden kann.
(9) Deutscher Bundestag, Drucksache 17/7034
(10) www.linksfraktion.de/reden/sozial-ausgleich-statt-opfer-rente/
(11) twitter.com/Patrick_Kurth/status/362152555867934720
(12) www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Ministerium/koalitionsvertrag.pdf
(13) bundespresseportal.de/thueringen/item/14081-cdu-medieninformation-die-linke-geb%C3%A4rdet-sich-weiterhin-als-%E2%80%9Estasi-gewerkschaft%E2%80%9C-voigt-fordert-linke-auf,-sich-von-steinke-zu-distanzieren.html

(31.7.2013)

Erklärung von Kersten Steinke

Die Spitzenkandidatin der Thüringer LINKEN Kersten Steinke erklärt zu der von dem Journalisten Jan Schönfelder im MDR ausgelösten Kampagne:

Der Journalist Jan Schönfelder nimmt einen Auftritt von mir bei ISOR e.V. und dem Verein „Rotfuchs“ am 25. Juli d.J. zum Anlass im MDR mich und meine Partei in Misskredit zu bringen.

Hierzu erkläre ich:

Als Vorsitzende des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages war ich zur Jahresversammlung der „Initiativgemeinschaft zum Schutz der sozialen Rechte ehemaliger Angehöriger der bewaffneten Organe und der Zollverwaltung der DDR“ (ISOR e. V.) eingeladen, um über den Stand der Bearbeitung einer Petition zu rentenrechtlichen Fragen zu berichten, die der Verein mit über 73 000 Unterschriften eingereicht hatte. Diese Petition, die entsprechend der Geschäftsordnung des Bundestagsauschusses in einer öffentlichen Sitzung 2012 behandelt wurde, trug der Vorsitzende von ISOR e.V. Horst Parton vor. Diesem Verfahren stellten sich alle  Mitglieder des Petitionsausschusses, darunter auch Claudio – Steffen Lemme (SPD) und Dr. Peter Röhlinger (FDP), die mir heute das Recht absprechen, als Vorsitzende sachlich über den Stand der Bearbeitung zu informieren. Welch Heuchelei in Zeiten des Wahlkampfes!
Außerdem habe ich in der Versammlung meine Position und Grundaussagen meiner Partei im Bundestagswahlkampf erläutert und zum Teil auch kritische Fragen beantwortet. In diesem Zusammenhang erläuterte ich auch das Rentenkonzept der LINKEN, das vor allem die Rücknahme der Rente mit 67 und die Angleichung der Renten In Ost und West fordert, aber auch die Beseitigung des Rentenstrafrechts enthält.
Ich konnte darauf verweisen, dass sich meine Partei seit Beginn der 90er Jahre für gerechte Renten einsetzt. Es liegen 17 Gesetzesentwürfe der Bundestagsfraktion der PDS, der Linkspartei.PDS bzw. der LINKEN vor, die vorhandenes Rentenunrecht beseitigen sollen. Es geht dabei u. a. um die Angleichung der Rentenwerte, die Anerkennung von Zusatzversorgungssystemen z. B. für Akademikerinnen und Akademiker, für Beschäftigte bei Bahn und Post, für einen Versorgungsausgleich für geschiedene Ehefrauen aus der DDR und andere Berufsgruppen. Zuletzt hat Gregor Gysi am 28. Juni d. J. im Bundestag auf diese Probleme aufmerksam gemacht.
Die LINKE hat sich stets für die Opfer des SED-Regimes eingesetzt und höhere Entschädigungszahlungen gefordert. Meine Fraktion hat u. a. auch einen Antrag verfasst, in dem es um die Wiederherstellung des Vertrauensschutzes bei Rentenleistungen für alle aus der DDR Geflüchteten, Abgeschobenen und Ausgereisten geht, die mit der deutschen Einheit vom Fremdrentengesetz ausgeschlossen wurden und so wieder zu schlechter gestellten DDR-Bürgern gemacht wurden. Sie ist jedoch wie in allen diesen Fragen an der Mehrheit von CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen gescheitert.
Es gab keinen heimlichen Auftritt, wie Schönfelder behauptet. Er und sein Kamerateam waren lediglich zu der Versammlung nicht erwünscht. Verleumderische Berichte über ISOR e. V. in der Vergangenheit haben diese Entscheidung herbeigeführt. Das hinderte das Team um Schönfelder jedoch nicht daran, mich mit Fragen zu bedrängen und von der Nähe der Toilettentür aus ohne Genehmigung die Veranstaltung aufzunehmen. Ich fühlte mich auf unangenehme Weise an die  Diskussion um die Ausspähung von Daten durch die NSA und die Prism-Programme erinnert.
Als Politikerin und Spitzenkandidatin der Partei DIE LINKE in Thüringen gehört für mich das Eintreten für Gerechtigkeit zu den wichtigsten Anliegen. Deshalb setze ich mich auch in Zukunft für alle Bevölkerungsgruppen ein, denen Unrecht geschieht. Selbstverständlich gehören für mich dazu auch die Menschen, denen in der DDR Unrecht geschah, für das sich meine Partei und ich entschuldigt haben. Allerdings wird es von mir keine Ausgrenzung irgendeiner Gruppe von Menschen geben, die sich ernsthaft mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen.
Ich gehe davon aus, dass die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler das heuchlerische Wahlkampftheater durchschaut!

(31.7.2013)

Medienberichte

Neues Deutschland: Steinke weist Vorwürfe wegen ISOR-Auftritt zurück (1.8.2013)