Zukunftskonzept zur Verbesserung der Versorgung Schwangerer, Eltern und Kinder aus suchtbelasteten sowie psychisch belasteten Familien in Thüringen

Kati Engel
Familien-KinderRedenSozialesKati Engel

Zum Antrag der Fraktionen der CDU, DIE LINKE, der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drucksache 6/5734

 

Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen, liebe Zuschauerinnen auf der Besuchertribüne und am Livestream, der Antrag, welchen wir heute abschließend beraten, hat bereits eine lange Geschichte hinter sich. Meine Vorrednerinnen sagten es ja bereits. Im Februar des vergangenen Jahres brachte die CDU-Fraktion einen Antrag mit dem Titel „Drogenabhängige Schwangere und Mütter in Thüringen“ in das Plenum ein. Dieser wurde an den Ausschuss für Soziales, Arbeit und Gesundheit überwiesen, dort beraten und es wurden drei öffentliche Anhörungen durchgeführt. Dies war nötig, da sich immer wieder neue Problemlagen auftaten bzw. sich immer wieder Nachfragen für uns ergeben haben. Im Ergebnis der Behandlung im Ausschuss haben alle vier demokratischen Fraktionen einvernehmlich einen gemeinsamen, umfassenderen Antrag erarbeitet, der den zutage getretenen Problemlagen auch Rechnung trägt. Die CDU-Fraktion hat daraufhin ihren ursprünglichen Antrag zurückgezogen.

 

Mit dem nun vorliegenden Antrag sollen durch verschiedene Maßnahmen auf Landes- und Bundesebene die bedarfsgerechte Versorgung und Beratung von Schwangeren, Eltern und Kindern aus suchtbelasteten Familien sowie Eltern mit psychischen Erkrankungen weiterentwickelt und verbessert werden.

 

Im Folgenden möchte ich kurz erläutern, warum dies notwendig ist und auf welche Problemlagen wir in der Anhörung gestoßen sind. In Deutschland leben etwa 2,6 Millionen Kinder mit alkoholkranken Eltern zusammen. Hinzu kommen noch mal 40.000 bis 60.000 Kinder drogenabhängiger Eltern. Das heißt, dass jedes sechste Kind von einer Suchtkrankheit in der Familie betroffen ist. Und hier sind die Kinder, die unter nicht stofflichen Abhängigkeiten im Elternhaus leiden, wie Spielsucht, Onlinesucht, Arbeitssucht, noch gar nicht mit eingerechnet, da sich diese Zahlen nur sehr schwer einschätzen lassen. Alle diese Kinder sind oft durch ihre Sozialisationsbedingungen schwer belastet und benachteiligt. Laut Statistik wird ein Drittel von ihnen später selbst abhängig werden, ein weiteres Drittel wird psychische und soziale Störungen davontragen und nur ein Drittel wird es schaffen, aus dieser belastenden Situation mehr oder weniger unbeschadet hervorzugehen.

 

Kinder aus suchtbelasteten Familien werden auch als „vergessene Kinder“ bezeichnet. Einerseits weil ihre Eltern mit ihrer Aufmerksamkeit vollständig um ihre Sucht kreisen – so bleibt natürlich wenig Raum für Zuwendung –, andererseits aber auch, weil sie von der Gesellschaft vergessen werden. Kinder suchtkranker Eltern erhalten in Deutschland eben nicht die Aufmerksamkeit, die sie benötigen. So werden immer noch die Alkoholproblematik in der Gesellschaft verharmlost und die vielfältigen Schäden und Belastungen dieser Kinder zu wenig ernst genommen. In Kindergärten, Schulen und im Gesundheitswesen fehlt es an Wissen über diese Kinder. Die Mitarbeiterinnen in diesen Bereichen sind im Umgang mit Kindern suchtkranker Eltern oft überfordert und alleingelassen. Hinzu kommt, dass die vorhandenen Hilfesysteme zu wenig miteinander kooperieren, sodass Kinder aus suchtbelasteten Familien allzu oft durch die Maschen der Hilfenetze hindurchrutschen. Eigentlich ist Deutschland bekannt für seine Bürokratie. Alles ist gesetzlich geregelt, Zuständigkeiten und Verfahrenswege sind klar und eindeutig beschrieben. Dies trifft natürlich auch auf die sozialen Leistungen zu. Lässt man jetzt die Frage nach der Feinmaschigkeit des sozialen Netzes und der Sinnhaftigkeit mancher gesetzlicher Regelung einmal außen vor, so verfügt Deutschland mit seinen zwölf Teilen des Sozialgesetzbuchs über ein gut strukturiertes Regelungssystem sozialer Dienstleistungen.

 

Betrachten wir doch einmal die verschiedenen Hilfen, die bei einer suchtkranken Familie zum Tragen kommen. Nehmen wir als Beispiel eine alkoholkranke Mutter, ich nenne sie jetzt der Einfachheit halber mal Frau Schmidt, mit ihrem fünfjährigen Sohn Jonathan. Zuerst macht Frau Schmidt eine Entgiftung, also einen körperlichen Entzug in einem psychiatrischen Fachkrankenhaus. Diese medizinische Heilbehandlung ist eine Hilfe nach dem SGB V. Die Kosten- und Leistungsträger dafür sind in der Regel die Krankenkassen. Danach macht Frau Schmidt eine medizinische Rehabilitation, also die eigentliche Entwöhnung in einer Fachklinik für Suchterkrankungen. Dies ist eine Hilfe nach dem SGB VI, wofür wiederum Rentenversicherungsanstalten die Kosten- und Leistungsträger sind. Wir dürfen aber auch Frau Schmidts Sohn Jonathan nicht vergessen. Nehmen wir an, dass er während der Entgiftung der Mutter stationär in einer Kinder- und Jugendeinrichtung betreut wurde und das Mutter und Sohn Hilfen zur Erziehung erhalten. Dann sind das wiederum Maßnahmen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz, also dem SGB VIII. Dazu kommt noch die Bestimmung des sogenannten Klammergesetzes, des SGB IX, wonach Maßnahmen nach den verschiedenen Teilen der Sozialgesetzbücher so von den Sozialleistungsträgern miteinander zu koppeln sind, dass sie für die Betroffenen als Maßnahmen wie aus einer Hand wirken. Wir haben es also allein in unserem Beispiel von Frau Schmidt und Jonathan mit vier verschiedenen Sozialgesetzbüchern zu tun. Klare Regelungen und Zuständigkeiten haben aber eben auch unerwünschte Nebenwirkungen. Sie können zu einer Versäulung von Hilfesystemen führen. Dann verlaufen zwischen den zuständigen Behörden und Kostenträgern unüberwindbare Gräben, die zu Situationen führen, die für Betroffene und Außenstehende nur schwer nachvollziehbar sind.

 

Meine beiden Kolleginnen hatten es ja auch schon angesprochen. In unserem Beispiel übertritt Frau Schmidt bei der Entlassung aus der akutklinischen in die rehabilitative Versorgung – also von der Entgiftung in die Entwöhnung – eine Grenze, nämlich von stationär zu ambulant. Die Kosten des stationären Entzugs werden grundsätzlich von der Krankenversicherung übernommen, die Entwöhnung und Rehabilitation jedoch in vielen Fällen von der Rentenversicherung. Im besten Fall soll dieser Übertritt nahtlos gelingen. Verschiedene Krankenkassen, Krankenhäuser und die Rentenversicherungsanstalten haben sich im Juli letzten Jahres auf ein sogenanntes Nahtlosverfahren verständigt, welches den Zugang zur Suchtrehabilitation verbessern soll. Herzstück dieses Verfahrens ist die begleitete Anreise der Patienten vom Krankenhaus in die Entwöhnungseinrichtung. Aber die Realität sieht leider ganz anders aus. In der Anhörung wurde uns oft berichtet, dass die Bearbeitung und Bewilligung der Reha-Anträge zu lange dauert oder das Nahtlosverfahren aufgrund von Platzmangel in den Folgeeinrichtungen nicht möglich sind. Für unsere Frau Schmidt bedeutet das, dass sie nach der Entgiftung in der psychiatrischen Fachklinik zurück nach Hause in ihr altes gewohntes Umfeld entlassen wird. Sie hat bisher nur den körperlichen Entzug hinter sich. Sie hat noch nicht gelernt, ihren Alltag neu zu organisieren. Sie hat noch nicht gelernt, überhaupt mit dem Suchtdruck irgendwie umzugehen. Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass ein solches Vorgehen absurd und unverantwortbar ist.

 

(Beifall CDU, DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Kommen wir zu einem weiteren Problem: Im weiteren Verlauf hat Frau Schmidt nun einen Platz in einer Rehabilitationseinrichtung und Jonathan darf als Begleitkind auch bei ihr sein, aber nur selten und nur verbunden mit einem sehr hohen organisatorischen Aufwand, wie es zum Beispiel – Frau Meißner hat es ja bereits angesprochen – dem Suchthilfezentrum „Wendepunkt“ in Wolfersdorf gelingt. Können Einrichtungen die notwendigen sozialpädagogischen Unterstützungsbedarfe für Begleitkinder durch die Kinder- und Jugendhilfe erhalten? Denn oftmals scheitert die Realisierung für diese Hilfen an viel zu vielen bürokratischen Hürden. Und nicht nur das – die Klinik Römhild schrieb in ihrer Stellungnahme: „Nachteilig ist, bei uns können die Kinder lediglich als Begleitkinder aufgenommen werden, obwohl sie parallel eigentlich einer eigenen psychotherapeutischen Behandlung bedürfen.“ Auf die Nachfrage, warum dies nicht möglich sei, erwiderten sie, dass die Krankenkassen eine psychotherapeutische Behandlung des Kindes ablehnen, solange sich ein Elternteil in einer Reha-Maßnahme befindet. Und das eigentlich Absurde ist, dass in der Klinik Römhild das nötige Fachpersonal für eine Therapie der Kinder vor Ort ist. Es sind sozusagen die Therapeuten da, es findet sich nur niemand, der die Kosten dafür übernehmen würde. Es ist in unserem Rechtssystem bis heute nicht möglich, das System Familie in die medizinische Rehabilitation zu vermitteln. Selbst wenn klar ist, dass die Krankheit Sucht die Therapie der gesamten Familie erfordert; die bestehenden gesetzlichen Regelungen sowie die gesamte Infrastruktur der Therapie von Suchtkranken bietet hierfür keinerlei Option.

 

Bereits 2003 wurden auf einer Fachkonferenz im Bundesgesundheitsministerium zehn Eckpunkte zur Verbesserung der Situation von Kindern aus suchtbelasteten Familien verabschiedet. Unter Punkt 1 heißt es: „Kinder aus suchtbelasteten Familien haben ein Recht auf Unterstützung und Hilfe, unabhängig davon, ob ihre Eltern bereits Hilfeangebote in Anspruch nehmen.“ Doch bis heute ist nichts geschehen – nach 15 Jahren! –, um diesen Kindern einen gesetzlichen Anspruch auf Hilfe zu geben. Die Bundesdrogenberichte halten immer wieder fest, dass Kinder von Suchtkranken in Deutschland oft keine adäquate Hilfe und Unterstützung erhalten und dass für sie eine flächendeckende Hilfe im Rahmen einer Regelfinanzierung notwendig ist. Aber wie diese Regelfinanzierung sichergestellt werden kann, darauf hat die Bundespolitik bis heute keine Antwort gegeben. Es gibt bis heute in den Sozialgesetzbüchern auch keine Anspruchsgrundlage für diese Kinder auf präventive Hilfe. Erst wenn es zu spät ist, erst wenn die Kinder und Jugendlichen infolge ihres Aufwachsens in einer dauerhaft von Unberechenbarkeit und emotionaler Abwesenheit der Eltern geprägten Atmosphäre krank oder sozial auffällig werden, erst dann greifen die Hilfeansprüche aus der Jugendhilfe oder der Krankenversicherung.

 

Die umfangreiche Anhörung verschiedener Vereine, Fachverbände, Leistungserbringer und Kostenträger zum Thema hat gezeigt, dass die Behandlung suchtkranker Eltern mit ihren Kindern mit dem Angebot der gemeinsamen stationären Aufnahme eine große Chance bietet, die Kontinuität der Beziehung aufrechtzuerhalten und die gegenseitigen Ressourcen zu nutzen und zu stärken. Aus diesem Grund bedarf es eben einer Anpassung der erforderlichen gesetzlichen Grundlagen, der Behandlungszeiten und der Rahmenbedingungen sowohl für die Entgiftung und die Rehabilitation als auch für die ambulante Nachsorge für suchtkranke Eltern mit ihren Kindern.

 

Die im Antrag aufgeführten Maßnahmen auf Landes- und Bundesebene, die sich aus der Anhörung ergeben haben, sollen außerdem dazu führen, dass bei einem entsprechenden Behandlungsbedarf eine zeitnahe Umwandlung des Status des Kindes als Begleitperson in den des Patienten mit entsprechenden Behandlungen und Therapien möglich wird. Der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut Prof. Dr. Stachowske, welcher Anfang der Neunziger eine stationäre Eltern-Kind-Einrichtung für drogenabhängige Eltern und ihre Kinder konzipierte und selbst bis 2011 leitete, drückte es in seiner Stellungnahme so aus – ich zitiere –: „Aufgrund dieser Erfahrung möchte ich ohne Einschränkung darauf hinweisen, dass gut entwickelte Therapieangebote für Eltern und ihre Kinder – und dies meint Kinder jeglichen Alters – sinnvolle und erfolgreiche Therapiekonzepte sein können. Von den Eltern und ihren Kindern, die die Therapieprozesse regelhaft beendet haben, ist kaum jemand rückfällig geworden. Viele der Kinder, die an diesen Therapien teilgenommen haben, habe ich auch mittel- und langfristig in ihrer Lebensentwicklung begleiten können. Ich weiß, dass sie hohe Bildungsabschlüsse erreicht haben, dass sie sich zu kreativen und liebenswürdigen Menschen entwickelt haben. Es sind Studienabschlüsse im In- und Ausland abgeschlossen worden usw. Kurz: Dies ist die geeignete und für mich die einzig geeignete Art der Therapie dieser Familiensysteme.“ Auch bei allen Belastungen in diesen Familien, auch diese Kinder lieben ihre Eltern. Mit der richtigen Art von Unterstützung können die Familien mit den suchtbedingten Schwierigkeiten zurechtkommen und die Kinder haben dann eine gute Chance sich zu gesunden, reifen und lebensfrohen Erwachsenen zu entwickeln. Und Ziel muss es sein, die Eltern trotz Suchterkrankung zu unterstützen, schließlich sind diese Menschen krank und eine vorsätzliche Schädigung der Kinder ist, wie bei allen anderen Eltern auch, meist die Ausnahme. Deshalb bitte ich um Zustimmung. Vielen Dank.

 

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dateien