Verfassungsschutzbericht 2021: Gefährliche Realitätsverzerrung

Sascha Bilay, Katharina König-Preuss
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Zum Thüringer Verfassungsschutzbericht 2021 erklären Sascha Bilay, Sprecher für Innenpolitik, und Katharina König-Preuss, Sprecherin für Antifaschismus der Linksfraktion: „Der Geheimdienst unterschlägt zahlenmäßig fast 80 Prozent aller extrem rechten Musikveranstaltungen in Thüringen. Hinzu kommt eine massive einseitige Verzerrung, durch die rechtsextreme Gewalt gefährlich bagatellisiert wird. Anstatt über gefährliche Neonazi-Strukturen wie ‚Combat 18‘, ‚Blood & Honour‘, ‚Arische Bruderschaft‘ oder die ‚Artgemeinschaft‘ zu informieren, verschweigt der Geheimdienst diese und verschwendet seitenweise Papier, u. a. zu Darstellungen wie die SocialMedia App TikTok funktioniert, ohne auch nur an einer Stelle die Relevanz für Thüringen herauszustellen. Die Krönung ist jedoch das falsche Abschreiben von 200 Tage alten Zahlen des Landeskriminalamtes und dass der Thüringer Verfassungsschutz nicht einmal in der Lage ist, ein Zitat eines verstorbenen Literaturpreisträgers zu erkennen und zuzuordnen.“

Dass die LINKE die Arbeit von Geheimdiensten generell kritisch hinterfrage, sei wenig verwunderlich, dennoch ist der nun vorgelegte Verfassungsschutzbericht derartig mangelhaft, dass man sich damit auch im nachrichtendienstlichen Verbund der Lächerlichkeit preisgebe. „Obwohl von Rechts nach Polizeiangaben mehr als doppelt so viele Gewaltstraftaten in Thüringen ausgehen wie von Links und die Opferberatung ezra mit 119 rechten rassistischen und antisemitischen Gewalttaten sogar viermal so viele registriert hat, verzerrt der Geheimdienst durch seine Berichterstattung fortlaufend die reale Kriminalitätslage. Statt einer vorgeschalteten Einordnung zur Ideologie und Gewaltorientierung, wie es sie im Bereich des ‚Salafismus‘ oder im Bereich ‚Linksextremismus‘ gibt, wurde dieser Teil für den Bereich ‚Rechtsextremismus’ einfach ignoriert. Die damit erfolgende Verharmlosung der Gefährlichkeit rechter Strukturen durch den Verfassungsschutz erinnert fatal an die 90er-Jahre“, so die Abgeordneten.

Sascha Bilay weist darauf hin, dass Straftaten unter Links gelistet werden, bei denen das Amt selber einräume, dass ‚Hinweise zu den tatsächlichen Tätern‘ nicht vorliegen. Ebenso fraglich sei, dass im Bericht Graffiti, die sich gegen die Polizei richten würden, per se unter Links verbucht werden, obwohl das Innenministerium gegenüber dem Landtag zum selben Berichtszeitraum Ende 2021 erklärte, dass 90 Prozent aller ACAB-Graffitis nicht als ‚Links‘ einzuordnen seien. „Damit manifestiert der Verfassungsschutz das Feindbild links für und in Sicherheitsbehörden und verzerrt zudem massiv die Realität zugunsten rechts.“

Bilay weiter: „Im Jahr 2021 gab es 1182 Straftaten gegen Polizist:innen in Thüringen. Dass der Verfassungsschutz die sieben Straftaten, die als ‚Politisch motiviert Links‘ eingeordnet sind, in den Fokus nimmt, anstelle zu thematisieren, dass Polizist:innen in Thüringen massiv bei Corona-Protesten angegriffen wurden, sendet ein fatales Signal. Wenn 90 Prozent der PMK-Delikte gegen Polizeibeamt:innen weitgehend Neonazis, Corona-Leugner:innen oder Reichsbürger:innen zuzuschreiben sind, dies jedoch keinerlei Erwähnung im Bericht findet, muss sich der Verfassungsschutz die Frage gefallen lassen, ob er eine politische Agenda verfolgt.“

Katharina König-Preuss, Sprecherin für Antifaschismus, ergänzt: „Seit 2020 ist für jeden offensichtlich, dass es tausendfach zu Verstößen gegen das Versammlungsgesetz bei den sogenannten Corona-Protesten gekommen ist. Dies scheint am Verfassungsschutz Thüringen vorbeigegangen zu sein oder dessen politischer Agenda zu folgen. Anders lässt sich nicht erklären, dass im gesamten Bericht Verstöße gegen das Versammlungsgesetz lediglich bei Links gesondert zahlenmäßig hervorgehoben werden, trotzdem 89 Prozent der polizeilich erfassten Verstöße eindeutig nicht links zugerechnet werden.“

Zu den weiteren Absurditäten, mit denen der Bereich „Linksextremismus“ gefüllt wird, gehört ein Zitat des deutschen Satirikers Wiglaf Droste aus dem Jahr 1993, das der Geheimdienst auf Twitter bei einer antifaschistischen Gruppe entdeckte: „Damit wird fast 30 Jahre nach Veröffentlichung des entsprechenden Textes sowie im dritten Jahr nach dem Tod von Droste der mehrfach ausgezeichnete Literaturpreisträger quasi zum linksextremen Verfassungsfeind erklärt, weil der Dienst krampfhaft bemüht ist, linke Strukturen zu diskreditieren. Millionen Euro fließen jährlich in eine Behörde, die sich selber als Frühwarnsystem deklariert, aber nicht einmal in der Lage ist, Zitate zu erkennen“, so König-Preuss.

König-Preuss kritisiert massiv, dass der Dienst im Bereich Rechtsextremismus streckenweise im Blindflug unterwegs sei: „Es fehlen zentrale Neonazi-Organisationen, die im Berichtszeitraum gewirkt haben und bundesweite Bedeutung haben. Ebenso werden neue Player im Bereich der Neonazi-Konzertorganisation nicht erwähnt. Dass der Geheimdienst nur von 3 extrem rechten Musikveranstaltungen für das Jahr 2021 spricht, hingegen die Mobile Beratung insgesamt 14 darstellt, ist ein Armutszeugnis für die Lesekompetenz und Analysefähigkeit des Verfassungsschutzes. Während bei Links von einer besonderen ‚Brutalität‘, Skrupellosigkeit‘ und von Gewalt als ‚identitätsstiftenden Merkmal‘ die Rede ist, wird diese zugleich als konstitutives Element der NS-Ideologie in Theorie und Praxis ausgeblendet. Eine entsprechende Einordnung fehlt im Bereich rechts vollständig. Der Verfassungsschutzbericht wird an keiner einzigen Stelle der Gefahr, die von rechten Strukturen in Thüringen ausgeht, gerecht. Im Gegenteil: Er verharmlost und ignoriert. So erwähnt der Bericht zwar die Turonen und deren Gefährlichkeit, aber mit keinem Wort die Gefahr, die bspw. von ‚Knockout 51‘ anhand konkreter Straftaten ausging.“

Positive Entwicklungen wie die Darstellung von revisionistischen und antisemitischen Denkmustern der Corona-Leugner, auch wenn der Dienst die dahinterliegenden Strukturen nicht im Ansatz erfassen kann, verblassen angesichts der vielen Mängel, nicht zuletzt weil das Amt beim Abschreiben der jährlichen PMK-Zahlen des LKA durcheinander kommt und einfach hunderte Straftaten unter den Phänomenbereichen Rechts/Links in der Rubrik ‚Sonstige staatsschutzrelevante Delikte‘ vertauscht.

Dass der Verfassungsschutz die AfD als einzige betroffene Partei von politisch motivierter Kriminalität herausstellt, obwohl im Jahr 2021 SPD, CDU, LINKE und GRÜNE bspw. von Angriffen betroffen waren, ist fatal. Kaputte Reifen, NSU 2.0 Drohschreiben oder angegriffene Wahlkreisbüros sind dem Dienst keine Silbe wert.“

Bilay und König-Preuss zeigen sich ernüchtert über das Ergebnis: „Gerade die Einordnungen zur AfD im Verfassungsschutzbericht sind richtig, auch wenn sie acht Jahre zu spät kommen und nahezu zu 100 Prozent auf Facebook-Eintragungen basieren. Sie zeigen vor allem, dass man demokratiegefährdende Bestrebungen auch ohne nachrichtendienstliche Mittel dokumentieren und nachweisen kann. Dafür braucht es jedoch keinen Geheimdienst. Die finanziellen Mittel wären sinnvoller im Bereich der Bildung, der Prävention und der Thüringer Polizei angelegt. Wer sich über rechte Strukturen und die von ihnen ausgehende Gefahr in Thüringen informieren will, sollte sich an Fachjournalist:innen, zivilgesellschaftliche und wissenschaftliche Strukturen und antifaschistische Recherche halten, die weder die Realität verzerren noch rechte Strukturen ignorieren.“


 

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