Nr. 20/2010: „Die SPD hat wegen ihrer Politik ein großes Glaubwürdigkeitsproblem“
Auf dem SPD-Sonderparteitag wurden Forderungen laut, die eigentlich nach einer politischen Kehrtwende aussehen. Ist das Selbstkritik, ein neuer Realitätssinn oder nur der Versuch, sich beim Wähler anzubiedern?
Erst einmal muss man feststellen, dass Hartz IV Gründerväter hat. Das sind Gerhard Schröder und die damalige rot-grüne Bundesregierung. Offenbar ist die SPD damals beseelt gewesen von Toni Blair, den man nachahmen wollte. Man hat allerdings übersehen, dass in England wenigstens ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wurde. Hier in Deutschland wurde nur Hartz IV eingeführt, wurde Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zusammengefasst. Letzteres zu Recht. Das hätte ich damals auch begrüßt, wenn es denn auf dem Niveau der Arbeitslosenhilfe geschehen wäre und nicht auf dem Armutsniveau der Sozialhilfe. Und was ganz schlimm ist, man hat mit den Optionen, die mit Leiharbeit möglich wurden, das Feld für Billiglohn weit geöffnet und mit Hartz VI-Aufstockung einen unsäglichen, katastrophalen Impuls gegen die Arbeitnehmer in Gang gesetzt. Der gesellschaftliche Umbau ist also nach einer Architektur der SPD vorangetrieben worden. Deswegen ist es zu begrüßen, wenn die SPD nach den heftigen Wahlniederlagen schmerzlich begreift, dass sie damit die Wurzeln ihrer eigenen Identität zerstört hat. Da knüpft Sigmar Gabriel jetzt an, um eine Wiedererkennbarkeit herzustellen. Von daher sage ich, linke Mehrheiten sind in vielen Landtagen möglich, die SPD muss aber beweisen, ob sie denn wirklich eine linke Mehrheit will, zugunsten der Menschen. Nur zu lamentieren, aber gleichzeitig eine wirkliche Kehrtwende bei der Rente mit 67, beim Niedriglohn, bei Leiharbeit und all diesen Themen nicht zu vollziehen, das wäre zu wenig.
Christoph Matschie hat insbesondere die Hartz IV-Pläne der Bundesregierung kritisiert. Sie haben gefordert, dass seinen Worten auch Taten folgen müssen. Was muss Matschie tun, um glaubwürdig zu sein?
Er muss mit dafür sorgen, dass Entscheidungen getroffen werden, die die Landesregierung binden. Sie muss im Bundesrat klare Initiativen gegen die schwarz-gelben Statistiktricks ergreifen. Das würde gar kein Geld kosten. Ich denke an eine Expertenanhörung, die diese angeblich transparenten Maßnahmen durchleuchtet. Dort muss man dann Leute wie den Armutsforscher Professor Christoph Butterwegge oder Dr. Gustav Horn vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung zu Wort kommen lassen und dann darauf basierend im Bundesrat „Nein“ sagen und konsequenterweise den Weg nach Karlsruhe vorbereiten. Unsere Herangehensweise im Landtag ist, dass wir uns nicht von schwarz-gelben Zahlentricks leiten lassen, diese auch nicht weiter thematisieren, sondern deutlich sagen: Das Bundesverfassungsgericht hat das steuerfreie Existenzminimum definiert, der gleiche Staat muss jetzt auch dafür sorgen, dass entsprechend hohe Unterstützungsleistungen gezahlt werden. Dabei muss jeder Mensch gleich viel wert sein, und der Maßstab kann nur das sein, was Karlsruhe definiert hat.
Welche Anknüpfungspunkte ergeben sich für DIE LINKE noch hinsichtlich möglicher gemeinsamer Aktionen mit der SPD?
Es gab eine gemeinsame Pressekonferenz in Thüringen gegen die Planungen von Schwarz-Gelb, den Atomausstieg zu beenden und damit die Kriegskassen der vier großen Stromkonzerne zu füllen. Das wird in Thüringen richtig schaden, weil E.ON und Vattenfall hier Global Player sind. Wenn unsere Stadtwerke und Gemeinden gegen diese großen Konzerne agieren wollen, müssen sie in der Lage sein, eigene regenerative Energieträger aufbauen zu können. Insoweit betrifft die Laufzeit-Frage nicht nur die Gefährlichkeit der Atomenergie, sondern wirkt auf die Finanzmarktarchitektur, die zugunsten von Großkonzernen verschoben wird. Da helfen aus meiner Sicht in letzter Konsequenz nur die Verstaatlichung, der Ausstieg aus der Atompolitik und ein dauerhafter Einstieg in die regenerative regionale Energiegewinnung. Damit hätten wir ein Zukunftsthema für Thüringen, statt einem Kapitalprofitthema für CDU/CSU und FDP. Darüber hinaus sind politische Projekte wie die Rücknahme der Rente mit 67, der Ausbau des öffentlichen Beschäftigungssektors – mit Minimalziel Rettung des Landesarbeitsmarktprogramms und der mittelfristigen Perspektive eines offensiveren Non-Profit-Sektors – weiter zu entwickeln. Der öffentliche Beschäftigungssektor mit sozialversicherungspflichtigem Einkommen, damit würden wir vielen Menschen eine Zukunft in Thüringen bieten. Beim längeren gemeinsamen Lernen hat Christoph Matschie im Wahlkampf klare Ansagen gemacht, jetzt gerade vollführt er endgültig den Kotau vor Mike Mohring. Wenn der Begriff Oberschule eingeführt wird, wie von der CDU gefordert, und nur wenige Schulen zur Gemeinschaftsschule werden, bleibt es bei der frühen Trennung der Kinder nach Klasse 4. Das wäre ein dauerhafter politischer Offenbarungseid der SPD. An diesen strategischen Punkten werden wir die SPD fortlaufend messen, denn in Thüringen gäbe es eine linke Mehrheit von SPD, Grünen und uns.
Sie sagen, dass es eine Erwartungshaltung gibt, dass Politik auf der Seite der Menschen stehen muss und nicht auf der Seite der Konzerne…
Wir müssen als LINKE im Diskurs sein mit all den Gruppen, die die Finanzmarktarchitektur als Ausgangspunkt der politischen Auseinandersetzung betrachten, müssen uns dort vernetzen, verankern und stärker engagieren. Wir dürfen uns nicht auf reine Parlamentswelt reduzieren. Die Bürger sollen verstehen, dass wir die Politik sozialer und gerechter gestalten wollen. Dazu gehört als eine Grundfrage: Wollen wir eine vom Kapitalmarkt gedeckte soziale Sicherung oder eine von der Gesellschaft und damit von Politik und Menschen gestaltete soziale Sicherung? Wenn wir eine moderne Bürgerversicherung schaffen, entziehen wir das soziale Sicherungssystem der Kapitalmarktlogik und der Kapitalmarktverwertung. Das wäre ein guter Schritt.
Gibt es da schon Vernetzungsprojekte? Und wer könnte dabei Partner sein?
Da gab es gerade den Attac-„Bankenaktionstag“, den europäische Aktionstag, es folgt der Protesttag der Arbeitsloseninitiativen in Oldenburg, wir haben genügend zu tun in diesem „heißen Herbst“. Dasselbe gilt aber auch für Castor-Proteste und generell für die Antiatombewegung. Wir müssen dort klar und deutlich erkennbar sein. Wir müssen auch bei Stuttgart 21 klar erkennbar sein. Und zwar nicht nur in Stuttgart gegen den Abriss des Bahnhofes kämpfen, sondern uns mit der gleichen Kraft für die Bürgerbahn einsetzen. Wir hatten in der PDS und in der Linksfraktion im Verlauf der letzten Jahre immer starke Akzente hinsichtlich „Bürgerbahn statt Börsenbahn“. Das muss weiterhin unser roter Faden des Handelns sein. Wie entziehen wir gesellschaftliche Prozesse der Börsen- und der Kapitallogik? Wie bringen wir die gesellschaftlichen Prozesse wieder in den politischen Raum, damit Menschen selber entscheiden können, wie ihr Leben zu gestalten ist? Wie schaffen wir es, innerhalb eines solchen Systems tatsächlich auch den Menschen, die - aus welchen Gründen auch immer - kurzzeitig herausfallen, einen solchen Schutz angedeihen zu lassen, dass sie nicht dauerhaft aus gesellschaftlichem Prozess ausgegrenzt werden?
Das Interview führte Stefan Wogawa.