LINKE Herausforderungen: Das Jahr 2022 hält viele neue Aufgaben bereit – nicht nur in Thüringen

Steffen Dittes
ParlamentsreportSteffen Dittes

Das Jahr 2021 sollte das Jahr sein, das uns aus der Pandemie führt. Schwere Erkrankungen ausschließende und Infektion deutlich vermindernde Corona-Schutzimpfungen sollten ein an Normalität grenzenden Leben ermöglichen. Virusmutationen, eine nach wie vor zu geringe Impfquote und auch eine gewisse Ablehnung oder auch Müdigkeit der Einhaltung von Schutzmaßnahmen im Arbeits- und Lebensalltag der Menschen setzten dieser Hoffnung schnell Grenzen. Und so wird auch das Jahr 2022 ein Jahr werden, in dem politische Entscheidungen getroffen werden müssen zur Pandemiebekämpfung, zur Abmilderung der Pandemiefolgen und zur Vorsorge vor künftigen Pandemien. Viele der in diesem zu treffenden Entscheidungen, insbesondere über Maßnahmen zum Infektionsschutz, werden ebenso kontrovers diskutiert, wie zuvor abgewogen. Und wie auch in den vergangenen Monaten wird es Befürworter:innen wie Kritiker:innen geben, Menschen, die die Maßnahmen als zu weitgehend oder als unzureichend bewerten. Medial und in der politischen Auseinandersetzung wird weniger die Information als die Kontroversen in den Mittelpunkt gestellt. Und Meinungsunterschiede über den richtigen Umgang mit einer Pandemie, die bislang in der BRD bereits mehr als 110.000 Tote verursachte, hat schon Kolleg:innen und Freunde auf- und auseinandergebracht. Das alles kann und wird eine Gesellschaft aushalten. Vor allem eine, die – stützend auf wissenschaftliche Meinungsuntersuchungen – mehrheitlich sehr viel solidarischer eingestellt ist, als politische Debatten über Löhne, Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zumeist erahnen lassen.


Mit dem von Wissenschaftlern erwarteten Übergang von der Pandemie in eine endemische Situation, also einer Situation, in der sich Virusausbrüche in bestimmten Regionen regelmäßig ereignen, aber die Zahl der Erkrankten relativ konstant bleibt, wird neben der Evaluation der Pandemieabwehrmaßnahmen und dem Ziehen von Schlussfolgerungen für auch künftig drohende Pandemien die gesellschaftliche Debatte über Lebensrisiken einerseits und Risiken abmindernde, aber individuelle Freiheiten begrenzende Maßnahmen andererseits geführt werden müssen. In vielen anderen Bereichen, zum Beispiel beim Rauchverbot in Gemeinschaftseinrichtungen, der individuellen Anschallpflicht auch im privaten PKW, beim Tempolimit oder auch beim Verbot von weichen und harten Drogen, haben diese Debatten meist Jahrzehnte angedauert, hatten auch nicht immer ein vergleichbares Ergebnis und werden von Zeit zu Zeit auch immer wieder neu geführt. Die mögliche und zu erwartende Einführung einer allgemeinen Impfpflicht gegen das Corona-Virus ist Teil, aber nicht Abschluss dieser Debatte. Gerade die sich verstärkende Erkenntnis, dass das Corona-Virus nicht verschwinden wird, fordert die Gesellschaft heraus, die Frage zu beantworten, was es heißt, mit dem Virus zu leben: für Konzerte wie Theaterbesuche, für Restaurants wie Diskotheken, für private Feiern wie Großveranstaltungen, für Masken- und Abstandspflicht im Personenverkehr und so weiter und so fort.

Die Pandemie hat darüber hinaus aber auch viele Fragen aufgeworfen, die unabhängig der weiteren Ausbreitung oder Eindämmung von COVID-19 zu beantworten sind oder anders formuliert: die damit beschriebenen Probleme sind zu lösen. Das Thema ungleicher Lastenverteilung drängt sich geradezu auf: Gute Arbeit und gute Löhne in der Pflege, medizinische Versorgung als öffentliche Daseinsvorsorge und Non-Profit-Aufgabe, solidarische Bürgerversicherung, in die alle ohne Ausnahme einzahlen, Freigabe der Patente für Impfstoffe oder sozial gerechte Steuerreform mit Einführung einer Vermögensabgabe sind nur einige Stichworte, die bundespolitisch auf die Agenda einer Politik der Gerechtigkeit gehören. Die LINKE-Bundestagsfraktion wird zu diesen Themen der Ampelkoalition immer wieder mit konkreten und umsetzbaren Vorschlägen politischen Druck für eine Veränderung der Politik ausüben.

Es wird keinen Weg zurück in eine alte Normalität geben können. Zu groß und zu offensichtlich sind die Schieflagen und zu deutlich drängen sich die Zukunftsaufgaben auf.

 

Auch auf Landesebene steht DIE LINKE in der Verantwortung, die durch die Pandemie zu Tage tretenden Herausforderungen anzunehmen. Dabei ist ihre Rolle als größte Fraktion und als die Partei, die den Ministerpräsidenten stellt und mit dem Gesundheits- und dem Bildungsministerium die beiden in der Pandemie am meisten geforderten Ministerien besetzt, eine sehr spezifische, da sie sich eben nicht nur auf das Äußern von Vorschlägen, Ideen und Kritiken beschränken kann, sondern an tatsächlich umgesetzter Politik gemessen wird. Daneben steht aber auch weiterhin sowohl die Erwartungshaltung als auch das Selbstverständnis, dass DIE LINKE gerade auch in Unterscheidung zu ihren Koalitionspartnern SPD und Bündnis90/Die Grünen als politische Stimme für soziale Gerechtigkeit wahrnehmbar bleibt, den Kapitalismus und die mit ihm verbundene Verwertungslogik nicht als unveränderbar gegeben ansieht und gegen Ungerechtigkeit jederzeit opponiert. In diesem Spannungsverhältnis stehend muss (und wird) es der Landtagsfraktion gelingen, die Haushaltsberatungen so zu führen, dass der Landtag mit mehr Ja- als Nein-Stimmen den durch das Parlament veränderten, aber durch die Rot-Rot-Grüne Landesregierung vorgelegten Haushaltsentwurf, in der ersten regulären Sitzung des Landtags beschließen wird. Der Haushalt ist Grundlage für die Arbeitsfähigkeit der Landes- und kommunalen Verwaltung. Er sichert sowohl Investitionen als auch Fördermittel an Unternehmen. Mit seinen Zuschüssen an Vereine, Organisationen und Trägern sozialer Dienstleistungen sichert er ebenso die soziale Infrastruktur in Thüringen ab. Letztlich entscheidet sich an seinem Beschluss die Handlungsfähigkeit des Landtages in der gegenwärtigen parlamentarischen Minderheitskonstellation.

In welche konkrete Richtung sich Thüringen entwickeln wird, wird sich im Jahr 2022 nicht nur an den konkreten Haushaltspositionen zeigen. Einer der eigentlich immer bestehenden politischen Schwerpunkte wird auch im kommenden Jahr die Politik und deren Entscheidungen prägen: die Bildungspolitik. Die tatsächlichen Folgen der Pandemie und der zum Infektionsschutz getroffenen Entscheidungen zu Schulschließungen (während die komplette Welt der privaten produzierenden Wirtschaft weitestgehend unberührt blieb) werden erst in wenigen Jahren wirklich vollumfänglich messbar. Absehbar sind aber bereits gravierende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit vieler Kinder und auf die weiteren auseinanderdriftenden Bildungschancen nach sozialer Herkunft. In der Pandemie entstandene Rückstände in der schulischen Bildung, aber auch die Erfahrungen mit anderen, außerhalb schulischer Bildungsvermittlung erworbenen Kompetenzen werden neben den Erfahrungen aus dem Lernen in Distanz- und Wechselmodellen zu einer neuen Diskussion über Bildungsinhalte und -formen führen: Längeres gemeinsames Lernen, Lernen mit digitalen Hilfsmitteln, fächer- sowie gruppenübergreifendes und anwendungsorientiertes Lernen. Aber auch die Frage, wie sich der Ort Schule entwickeln muss, der zumeist durch ein Gebäude gekennzeichnet ist, das einer Lernform aus dem vergangenen Jahrhundert entspricht. Aber Bildung ist nicht nur Schule, sondern beginnt bereits in Kinderkrippe und Kindergarten. Hier die bereits hohe Qualität zu steigern, wird eine Aufgabe in diesem Jahr sein. Um den Bildungsauftrag gerecht werden zu können, soll der Betreuungsschlüssel durch ausgebildetes Fachpersonal weiter erhöht werden. Und zur Qualität von Bildung gehört ebenso, dass sie kostenfrei zugänglich ist. Und zwar unterschiedslos für jedes Kind. Das dritte beitragsfreie Jahr und damit einen beitragsfreien Kindergarten in Thüringen gesetzlich festzuschreiben ist unser Ziel (siehe Seite 4 und 5).

Die Pandemie hat ebenso die Frage aufgeworfen, wie Parlamente und die Einwohner:innen selbst an Entscheidungen der Regierungen beteiligt werden müssen. Für die Mitarbeit des Landtages an den in der Verantwortung der Landesregierung liegenden Infektionsschutzverordnungen wurde bereits im Dezember 2020 ein Verfahren verabredet, das sicher nicht optimal ist, aber bislang fehlen bessere, vor allem realisierbare Alternativen. Für die Einbeziehung von in Thüringen lebenden Menschen hat die Thüringer Landesregierung 2021 einen Bürgerrat einberufen. Eine wertvolle Erfahrung mit einem Konsultationsverfahren, das dem – wie der im Dezember 2021 veröffentlichte Thüringen Monitor aufzeigte – Wunsch nach einem engeren Dialog zwischen den politischen Entscheider:innen und den Bürger:innen entspricht. Ebenso große Zustimmung erfährt eine stärkere Beteiligung durch direkt-demokratische Entscheidungen. Nach Ansicht der Fraktion DIE LINKE sollte der Thüringer Landtag dies ernst nehmen, die Absenkung der Hürden für Volksbegehren und vor allem die Erleichterung von Einwohneranträgen, wie von LINKE, SPD und Grünen beantragt, auf den Weg bringen und die Erkenntnisse aus der Arbeit im Bürgerrat zur Corona-Politik nutzend dieses Konzept der politischen Konsultation fortentwickeln.

Überhaupt steht die Frage der Grund- und Bürgerrechte wieder stärker im Fokus. Dabei ist die Beschränkung von Grundrechten allgegenwärtig und unterliegt einer ständigen Auseinandersetzung. Vorrangig in der Vergangenheit immer dann, wenn der Staat mit dem angegebenen Grund, Sicherheit zu schaffen, Schutzrechte abbaute und sich Zugriffsmöglichkeiten beispielsweise auf Kommunikationsdaten der Menschen sichern wollte. Nicht selten war es allein DIE LINKE, die die Grundrechte verteidigend derartige tiefgehende Eingriffsbefugnisse ablehnte. Die Beschränkungen der Versammlungsfreiheit aus Infektionsschutzgründen war – wenn auch in der konkreten Ausgestaltung nicht in jedem Fall, aber grundsätzlich – einerseits nachvollziehbar und wurde durch Gerichte auch bestätigt, andererseits führte das eher dazu, dass diejenigen, die sich politisch positionieren und den sogenannten „Spaziergängen“ entgegenstellen wollten, in ihrer politischen Handlungsfreiheit beschränkt wurden. Demgegenüber erleben wir eine nahezu vollständige Entgrenzung der Meinungsfreiheit, die dazu führt, dass insbesondere in sozialen Netzwerken und digitalen Medien nicht nur jeder noch so große Blödsinn Verbreitung findet, sondern auch antisemitische Verschwörungserzählungen, Beleidigungen, Verleumdungen bis hin zu Bedrohungen.

Die Frage, wie weit Grundrechte wirken und welche Grenzen ihnen gerade in Abwägung mit anderen Grundrechten auferlegt werden können und sogar auch müssen, wird in den kommenden Monaten nicht nur die Diskussionen über Infektionsschutzmaßnahmen bestimmen, sondern auch in vielen anderen Bereichen die politischen Bürgerrechte betreffend zu führen sein. DIE LINKE versteht sich hierbei als Bürgerrechtspartei, die die Grundrechte dort schützt, wo unverhältnismäßig in diese eingegriffen wird und dort Beschränkungen sieht, wo die Grundrechtsausübung und -wahrnahme nicht mehr für alle im gleichen Maße und Umfang garantiert ist.
Kurz nach dem Jahreswechsel brachte der kommunalpolitische Sprecher der Fraktion DIE LINKE, Sascha Bilay, mit Überlegungen zur Einsetzung staatlicher Beauftragter auf Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte, damit diese unmittelbar Maßgaben und Vorgaben des Landes in kommunales Recht umsetzen, Landräte und Oberbürgermeister in Wallung. Unabhängig davon, wie geeignet eine solche Überlegung in der gegenwärtigen Debatte ist, ist es richtig, über die Strukturen im Gesundheitsdient, über Zuständig- und Verantwortlichkeiten für einen einheitlichen Rechtsvollzug in der Pandemiebekämpfung nachzudenken. Seit mehr als 20 Monaten erleben wir in Thüringen, wie 22 sehr unterschiedlich ausgestattete Gesundheitsämter die Pandemie bewältigen. Ihr Verantwortungsbereich umfasst zwischen 37.000 bis 214.000 Einwohner:innen. Immer wieder haben wir erlebt, wie bei gleichen Rechtsgrundlagen Gesundheitsämter vor Ort diese durch ihre jeweilige Entscheidungspraxis, beispielsweise bei der Anordnung von Quarantäne, unterschiedlich umgesetzt haben. Ob in dieser kleinteiligen Struktur Infektionsschutz und Pandemiebekämpfung tatsächlich wirksam organisiert sind, kann begründet angezweifelt werden. Nicht nur aus diesem Grund steht Thüringen vor einer Funktional- und Verwaltungsreform, bei der über die Aufgabenerledigung neu nachgedacht werden und die selbstverständlich die kommunale Ebene mit umfassen muss. Die Kommunen sind, neben dem Bund und den Ländern, Teil der staatlichen Organisation mit den ihnen übertragenen staatlichen Aufgaben, die sie neben ihren Selbstverwaltungsaufgaben zu erfüllen haben. Die in der Pandemie zu bewältigenden Aufgaben nach dem Infektionsschutzgesetz sind – anders als von der CDU oder sogar der Staatssekretärin im Thüringer Innenministerium in Reaktion behauptet – keine Aufgaben der kommunalen Selbstverwaltung. Sie sind staatliche Aufgabe ohne eigenen Spielraum der Kommunen, die diese als Teil der staatlichen Ordnung zu übernehmen haben. Wer noch vor der Diskussion über eine Reform der staatlichen Aufgaben und Strukturen Denkverbote beispielsweise über kooperative Aufgabenerledigung zwischen Landkreisen oder Regionalkreismodelle erlässt oder mit einem vagen, aber unbegründeten Verweis auf eine drohende Gebietsreform jedweden Reformschritt von vorherein blockieren will, hat sich seiner politischen Verantwortung für zukunftsfähige und -feste Strukturen längst entledigt.

Soziale Gerechtigkeit, Solidarität, Demokratie, Bürgerrechte und Zukunftsfähigkeit sind die Überschriften der großen Herausforderungen während und nach der Pandemie. Es wird keinen Weg zurück in eine alte Normalität geben können. Zu groß und zu offensichtlich sind die Schieflagen und zu deutlich drängen sich die Zukunftsaufgaben auf, von denen an dieser Stelle nur wenige benannt werden konnten. Mobilität oder die Transformation der Wirtschaft, der demografische Wandel hätten ebenso benannt werden können. Nicht zuletzt steht aber der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, angefangen bei einem menschliches Leben dauerhaft ermöglichenden Klima auf der Erde, über allen anderen Themen. Er wird aber auch nur dann zu schaffen sein, wenn gleichzeitig die soziale Frage der gerechten Inanspruchnahme ökologischer Ressourcen gelöst ist.

Steffen Dittes,
Fraktionsvorsitzender

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