Leiharbeit in der Pflege - System von Pflegenden und Pflegebedürftigen nicht länger tragbar

Parlamentsreport

In regelmäßigen Abständen vollzieht die sozialpolitische Sprecherin Karola Stange gemeinsam mit den Paritätischen Thüringen eine thematische Tour in Erfurt und Umgebung. Am 5. April stand das Thema Pflege auf dem Programm. Gemeinsam mit dem Landesgeschäftsführer des Paritätischen Thüringen, Stefan Werner, und den Fachreferenten des Paritätischen besuchte Stange ein Seniorenheim des ASB, einen privaten Pflegedienst mit ambulanter Pflege und eine Senior:innen-Wohngemeinschaft. Ein besonders brisantes Anliegen in den Gesprächen mit den Geschäftsführungen der Pflegeeinrichtungen war das Thema Leiharbeit in der Pflege.

Leiharbeit regulieren

„In den Gesprächen wurde die Forderung laut, Leiharbeit in der Pflege zu regulieren, besser noch Leiharbeit als Geschäftsmodell ganz zu verbieten, auch weil Dritte noch an den Pflegebedürftigen verdienen und die Qualität der Pflege leidet“ erzählt Stange.
Hintergrund seien die aktuelle Entwicklung des Pflegesystems mit dem Aspekt der Leiharbeit, führt sie weiter aus: In Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen ist eine zunehmende Inanspruchnahme externer Personaldienstleister zu beobachten, besser charakterisiert als Leih- oder Zeitarbeit. Das Thema der Leiharbeit ist in anderen Branchen wie der Kurier-, Express- und Paketdienstleistungsbranche vor allem dadurch bekannt, dass die Leiharbeitnehmenden prekär und befristet angestellt sind. Im Bereich der Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen führt der Anstieg von Leiharbeit jedoch zu einem umkehrten Trend.

„Im Bereich der Pflege ist die Bezahlung oftmals um ein Vielfaches höher und bedeutet für die öffentlich finanzierten Pflegeleistungen eine mittlerweile nicht mehr zu unterschätzende finanzielle Belastung. Laut der deutschen Krankenhausgesellschaft betragen die Kosten für Leiharbeitskräfte mehr als das Doppelte der Kosten der Stammbelegschaften. Hier ist somit eine Veränderung der Art und Weise, wie Leih- und Zeitarbeit eingesetzt wird, zu beobachten“, ergänzt Ralf Plötner, gesundheitspolitischer Sprecher. Wurde Leiharbeit früher zur Abdeckung von kurzfristigen Personalausfällen oder Belastungsspitzen eingesetzt und bot gleichzeitig den Leiharbeitnehmern die Möglichkeit einer dauerhaften Übernahme, so hat sich diese gegenwärtig zu einem eigenen verfestigten Arbeitsmarkt entwickelt. Das sieht auch Lena Saniye Güngör, arbeitsmarkt- und gewerkschaftspolitische Sprecherin: „Der Arbeits- und Fachkräftemangel im Gesundheitswesen hat dazu geführt, dass in nahezu allen Pflegeeinrichtungen Leiharbeit fester Bestandteil ist, ohne diesen der normale Betrieb nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Laut aktuellem DKI-Krankenhausbarometer 2021 hat im Jahr 2020 jedes zweite Krankenhaus Leiharbeit in der Pflege einsetzen müssen.“ Die Personaldienstleister sind dabei vorrangig gewinnorientiert und die Gewinne wiederum werden aus den Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern der Gemeinschaft abgespeist. Die Abgaben und Beiträge sind aber dazu gedacht, gute Pflegebedingungen herzustellen. Ob der vermehrte Einsatz von Leiharbeit dabei hilft, ist fraglich.
Eins steht fest: Auf der individuellen Beschäftigtenebene besteht ein hoher finanzieller Anreiz dazu, in der Leiharbeit in der Pflege beschäftigt zu sein. Stundensätze zwischen 56 bis 70 Euro sind durchaus üblich. Auch die höhere Flexibilität bezüglich der individuellen Gestaltung der Arbeitseinsätze bildet einen Anreiz für Pflegebeschäftigte, in die Leiharbeit zu wechseln. „Auffällig in diesen Entwicklungen der Leiharbeit im Bereich der Pflege ist auch, dass konservative Kräfte in Politik und Wirtschaft das System der Leih- und Zeitarbeit unterstützt haben, solange hiermit eine Ausbeutung der Arbeitnehmer:innen möglich war. Wenn jetzt aber Arbeiternehmer:innen versuchen, das System für sich nutzen, spricht sich jetzt auch auf einmal die CDU für ein Verbot aus“, weist Güngör hin.

Pflege heißt Vertrauen

Wenn man die Perspektive jedoch auf die Situation des Stammpersonals richtet, ergibt sich ein anderes Bild. Durch das ständig wechselnde Leiharbeitspersonal müssen immer wieder von Neuem Einarbeitungen durch das Stammpersonal vorgenommen werden. Die Leihbeschäftigten haben flexiblere Einsatzmöglichkeiten, so bleiben oftmals nur die unbeliebteren Wochenend- und Sonntagsdienste der Stammbelegschaft vorbehalten. Des Weiteren kann sich auch auf der Seite der Pflegebedürftigen kein Vertrauensverhältnis gegenüber dem Pflegepersonal einstellen, wenn dieses im ständigen Wechsel begriffen ist. Dies wirkt sich auch auf die Qualität der Pflege aus. Nicht zuletzt die höhere Vergütung, die Leiharbeitsfirmen anbieten, schlägt sich in hohen Vermittlungskosten für die Pflegeeinrichtungen nieder. Dadurch wird der Abfluss von finanziellen Mitteln aus dem System Pflege in die profitorientierte organisierte Leiharbeit gefördert, hält Stange fest.

System nicht länger tragbar

Die Reformpläne von Karl Lauterbach, die Abrechnung der Mehrkosten durch Leiharbeit bei den Pflegekassen zu unterbinden, ist unzureichend, da dies bereits jetzt nicht möglich ist. Viel mehr braucht es einen umfangreichen Systemwechsel innerhalb der Pflege, was die Attraktivität der Pflege sowohl für die Pflegebeschäftigten und die  zu Pflegenden erhöht. Denn die Zeit drängt, bis 2055 erhöht sich die Anzahl der zu Pflegenden um 37 Prozent. Eine Lösung kann die Weiterentwicklung der Pflegeversicherung zu einer Pflegevollversicherung darstellen, in der das individuelle Risiko vollständig abgesichert wird und nur noch Unterkunfts- und Verpflegungskosten getragen werden müssen. Die gestiegenen Personalkosten müssen auf ein Niveau begrenzt werden, das sowohl für die Pflegenden Anreize schafft, im Beruf zu bleiben, gleichzeitig jedoch auch der immer weiter steigenden Gewinne der privaten Personaldienstleister Grenzen setzt, denn diese Gewinne werden gegenwärtig zu Lasten der Stammbelegschaften und aus den Versicherungsbeiträgen und Steuern der Gesellschaft erzielt. Bedarfsgerechte Pflegeleistungen sollten zur Öffentlichen Daseinsvorsorge zählen. Zum jetzigen Zeitpunkt bedeuten die Pflegekosten ein Armutsrisiko, gerade für einkommensschwache Personen. Ein würdevolles Altern sollte allen Menschen ermöglicht werden. Deshalb sind hier Schritte nötig, die dieser Entwicklung Einhalt gebieten. Denn auf Dauer ist das gegenwärtige System sowohl von den Pflegenden als auch den Pflegebedürftigen nicht zu tragen. Auf der Arbeitgebendenseite müssen entsprechende strukturelle Investitionsmaßnahmen getroffen werden, um einen konstanten Personalstamm zu gewährleisten. Hier sind entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die auch ein Verbot von Leiharbeit im Gesundheitswesen beinhalten könnten.