Flüchtlingspolitik - Über vermeintlich absolute Grenzen und die Pflicht zur Aufnahme

Ein Text von Martin Heucke, wissenschaftlicher Mitarbeiter

Stellen Sie sich vor, Sie kommen beim Spazierengehen an einem Teich entlang, in dem eine Person zu ertrinken droht. Sie können gut schwimmen und fühlen sich daher in der Lage, die Person zu retten. Alles, was Sie riskieren, ist nasse Kleidung. Dass Sie zufällig in diese Situation geraten sind, dieser Person Hilfe leisten zu können, reicht aus, um Sie zur Nothilfe zu verpflichten, da zum einen signifikante Güter auf dem Spiel stehen (das Überleben der ertrinkenden Person) und Sie zum anderen in der Lage sind, diese Person zu retten, ohne selbst ein nennenswertes Risiko einzugehen. Ändert sich die Situation, wenn außer Ihnen noch drei weitere Personen am Ufer des Teiches spazieren gehen? Stehen Sie aufgrund der Tatsache, dass andere ebenfalls Hilfe leisten könnten, nicht mehr (oder weniger) in der Pflicht, selbst aktiv zu werden? Wenn aber die beschriebene Notsituation hinreicht, eine einzelne zur Rettung fähige Person zur Nothilfe zu verpflichten, wieso sollte dies nicht auch im Falle von vier potentiellen Helfer:innen gelten? Als in der Situation existierende Gruppe von vier Personen sind sie Träger:innen einer gemeinsamen Hilfspflicht, welcher sie nachkommen können, indem sie ihr Handeln koordinieren. Zum Beispiel retten zwei Personen den Ertrinkenden aus dem Wasser, während die dritte Person einen Krankenwagen ruft und die vierte Person eine Decke oder warme Kleidung zu organisieren versucht.

Gemeinsame Verantwortung

Wie verhält es sich aber, wenn im Teich statt einer nun vier Personen zu ertrinken drohen? Entscheidend ist, dass die Vielzahl der Akteure, die Hilfe leisten können, sowie die Mehrzahl an Personen, die Hilfe benötigen, nicht dazu führen, dass einige oder alle der am Ufer stehenden aus der Hilfspflicht entlassen sind. Stattdessen tragen sie eine gemeinsame Verantwortung, ihr Handeln derart zu koordinieren, dass alle Ertrinkenden geholfen wird. Was ist, wenn sich die drei anderen Spaziergänger:innen weigern, sich an der Rettungsaktion zu beteiligen? Selbstverständlich müssen Sie dann noch immer versuchen, alle vier Ertrinkenden zu retten, sofern Sie sich dadurch nicht selbst in Gefahr bringen. Ohne Zweifel ist das Verhalten der anderen Spaziergänger:innen verwerflich, da sie sowohl die Ertrinkenden als auch sie im Stich lassen. Ihnen  widerfährt eine Ungerechtigkeit, wenn Sie die Lasten der Rettungsaktion gänzlich allein tragen müssen. Allerdings wiegt diese Ungerechtigkeit weitaus weniger schwer als die besonders dringlichen Ansprüche der Ertrinkenden. Es gilt daher in solchen und ähnlichen Notsituationen, dass Akteure auch dann zu zusätzlichen Leistungen verpflichtet sind, wenn sie ihren gerechten Anteil bereits erbringen. Nur wenn Sie keine weitere Person aus dem Wasser retten können, ohne das Risiko einzugehen, selbst zu ertrinken, kann man nicht mehr von Ihnen verlangen.

Hilfspflicht der Staaten?

Wenn wir das Teich-Beispiel in einem nächsten Schritt gedanklich auf die Situation von Geflüchteten übertragen und uns fragen, ob nicht auch Staaten gegenüber Flüchtlingen eine vergleichbare Hilfspflicht wie Sie (und die anderen Spaziergänger:innen) gegenüber den Ertrinkenden haben, dann können wir festhalten:
1. Staaten sind selbst dann nicht von ihrer Hilfspflicht gegenüber Geflüchteten entbunden, wenn Geflüchtete gegenüber keinem spezifischen Staat einen Anspruch auf Aufnahme geltend machen können. Allein die Dringlichkeit der auf dem Spiel stehenden Güter (Leben und Freiheit der Geflüchteten) erlaubt es Staaten nicht, die benötigte Hilfe zu verweigern.
2. Aufnahmepflichten existieren auch gegenüber denjenigen Geflüchteten, die sich außerhalb der Jurisdiktion jener Staaten aufhalten, die ihnen Schutz und eine Perspektive bieten können. Allerdings obliegen diese Pflichten nicht einem einzelnen Staat, sondern allen Staaten, die in der Lage sind, Geflüchteten Schutz zu gewähren.
3. Die Regelmissachtung einiger Staaten führt dazu, dass all jene Staaten, die ihre Vorgaben bisher erfüllen, zusätzlichen Geflüchteten Schutz gewähren müssen, um den Ausfall der regelmissachtenden Staaten zu kompensieren.
4. Staaten müssen dann keinen zusätzlichen Schutzsuchenden Zuflucht gewähren, wenn sie ihre absolute Kapazitätsgrenze erreicht haben.
Kapazitäten der Aufnahme

Das Problem besteht jedoch darin, die absolute Grenze der Aufnahmekapazität von Staaten zu bestimmen. Unklar ist, anhand welcher Kriterien sich diese bemessen lassen sollte. Größe und Einwohnerzahl eines Staates mögen zwar einen Anhaltspunkt geben, doch wann genau die Aufnahmekapazitäten ausgeschöpft sind, bleibt eine schwierige Frage. Eine zentrale Ursache dieser Unschärfe liegt darin begründet, dass viele der Faktoren, die die Aufnahme weiterer Geflüchteten ermöglichen, vom politischen Willen der Regierung und der Bürger:innen abhängen. Im Wissen um bestehende Aufnahmepflichten gilt es folglich, weitere Ressourcen und politische Mehrheiten zu mobilisieren, um zusätzlichen Geflüchteten Schutz gewähren zu können. Infolgedessen verschiebt sich die Grenze der Aufnahmekapazität entsprechend nach oben. Orientierte sich die Erörterung der Pflichten gegenüber Geflüchteten hingegen an den vermeintlichen Grenzen des politisch Machbaren, wie es rechtskonservative Parteien tatsächlich gerne tun, so führte der faktische Mangel an Bereitschaft zur Aufnahme von weiteren Flüchtlingen zum Absinken der Aufnahmekapazitäten. Durch die direkte Verknüpfung der Aufnahmekapazität mit der vorhandenen Aufnahmebereitschaft könnten Regierungen sich selbst von ihrer Aufnahmepflicht entbinden: Weil sie keine weiteren Geflüchteten aufnehmen wollen, schaffen sie keine zusätzlichen Kapazitäten. Und wenn die vorhandenen Kapazitäten ausgeschöpft sind, dann steht der Staat nicht mehr in der Pflicht, weiteren Geflüchteten Zuflucht zu gewähren. Aber es ist doch so:
1. Insbesondere einflussreiche Staaten haben diverse Möglichkeiten, mittels Anreiz und Druck andere Staaten dazu zu bewegen, ebenfalls mehr Geflüchteten Schutz zu gewähren. Je mehr Staaten sich am Geflüchtetenschutz zu beteiligen und ihren Pflichten nachkommen, desto geringer ist die Anzahl derjenigen Geflüchteten, denen regelbefolgende Staaten zusätzlich Schutz bieten müssen.
2. Aufnahmestaaten können und sollten intern für eine faire Verteilung der Kosten sorgen. Gerade mit Blick auf bezahlbaren Wohnraum sollten Staaten durch gesetzliche Regelungen und Investitionen bspw. verhindern, dass Geflüchtete von den ökonomisch schlechtestgestellten Bürger:innen als Konkurrent:innen auf dem Mietwohnungsmarkt wahrgenommen werden.
3. Geflüchtete beanspruchen die Aufnahmekapazität eines Staates in der Regel nur temporär. Ein nicht geringer Teil kehrt in die Herkunftsstaaten zurück. Doch auch jene, die bleiben, fallen bei der Berechnung der vorhandenen Aufnahmekapazitäten nicht mehr ins Gewicht, sobald sie Fuß gefasst haben.

Viele Menschen, die als Geflüchtete zu kommen, werden im Laufe der Zeit Teil der Gesellschaft. In diesem Sinne beanspruchen sie Aufnahmekapazitäten nur für eine begrenzte Zeit. Selbst wenn die wohlhabenden Staaten dieser Welt von nun an deutlich mehr Geflüchtete aufnähmen, als sie es gegenwärtig tun, wäre daher zu bezweifeln, dass sie in naher Zukunft tatsächlich an die Grenzen ihrer absoluten Aufnahmekapazität stießen.