Die letzte Seite: Katja Mitteldorf liest „Schon okay“ von Antje Lampe

Katja Mitteldorf
Parlamentsreport

Dass ich den Debütroman von Antje Lampe unbedingt lesen wollte, war meiner Neugier geschuldet. Ich kenne die Autorin aus einem ganz anderen Kontext seit Jahren. Ich dachte mir: Mensch, da veröffentlicht jemand aus meinem weiteren Umfeld einen Roman und ich finde das einfach nur großartig, mutig und ganz wundervoll. Ich begann zu lesen, ohne zu wissen, was mich erwarten würde. Im Nachhinein habe ich nicht ansatzweise mit dem Feuerwerk gerechnet, das „Schon okay“ bei mir auf ganz vielen Ebenen ausgelöst hat. Hui!


Auf dem Buchrücken wird „Schon okay“ als Coming-of-age-Geschichte angekündigt. Im Mittelpunkt steht Juli, die in der brandenburgischen Provinz nicht nur ständig umsonst auf den einzigen Bus aus dem Dorf wartet, sondern auch auf die Eingebung, wie ihr Leben außerhalb ihres Elternhauses eigentlich weitergehen soll. Es sind die uns allen bekannten Fragen nach dem Warum dieses Lebens, nach dem eigenen Koordinatensystem, nach Emanzipation und der Sehnsucht danach, gesehen, gehört und geliebt zu werden. All dies ist der Teppich einer Geschichte, die – wie ich beim Lesen mit jeder Seite mehr feststellte – sich mit der Einordnung, ein Roman über das Erwachsenwerden sein zu wollen, selbst unter Wert verkauft.
Antje Lampe kreiert eine Tiefe, die weit über Julis Weg zu sich selbst und in die Welt, hinaus geht. Sehr viel weiter, denn die Autorin schafft es durch ihren bestechend klaren Blick auf das Leben in der Provinz, zwischenmenschliche Beziehungen und die Auswirkungen von sich verändernden  Gesellschaftsprozessen im Laufe der Jahre auf ihre Charaktere wahrhaft tiefgründige Einblicke in greifbare Lebensrealitäten zu geben. Das sind jene Realitäten, über die viele Politikerinnen und Politiker gern als „ländlicher Raum“ oder „ostdeutsche Identität“ sprechen, aber sie dann im Handeln eben doch nicht greifen können. Ich bin geneigt, „Schon okay“ als Pflichtlektüre für alle anzuregen, die sich in endlosen theoretischen Debatten über „das Leben der Menschen“ auslassen, während sie selbst außerhalb von Großstädten keinerlei Erfahrungen sammeln konnten oder auch wollten.
„Schon okay“ seziert auf beeindruckende Art und Weise, wie Dörfer und Gegenden ausbluten, wie die gutbürgerliche Fassade beklemmend tiefe Risse hat, wenn sich dahinter doch Rechtsextremismus, nicht ganz glückliche Beziehungen und vor allem der wachsende finanzielle Druck einer sich verändernden Arbeits- und Lebenswelt offenbaren.
Antje Lampe versteht es, ihre erfrischend konkrete Sprache, ihre lebendigen Bilder und Metaphern für eine umfassende Gesellschaftsanalyse einzusetzen, ohne die Leserinnen und Leser dieses Buches zu belehren. Dieses Nicht-Belehren ist auch etwas, was sich Politik und Medien gern von diesem Buch abgucken dürfen.
Es mag sein, dass meine Leidenschaft und Euphorie für dieses Buch auch – aber eben ausdrücklich nicht nur – dem geschuldet ist, dass Juli mir unglaublich nah ist. Vieles von dem, was sie bewegt, wie sie sich fühlt, wie sie auf dem Weg zum Finden ihres eigenen Selbstwertes ist, erinnert mich sehr an meine Jugendzeit in der Provinz in Sachsen-Anhalt. Beim Lesen erlebte ich noch einmal, wie ich damals diesen unbändigen Freiheitsdrang hatte, mit Mitgefühl und auch Sorge auf eine vermeintlich heile und doch graue Welt von Erwachsenen blickte, die eben nur funktionierten und kaum wirklich lebten. Für jemanden, wie Juli oder eben für mich, die gerade erst bemerkt, dass die Leere in einem selbst auch etwas mit fehlendem Selbstvertrauen zu tun hat, ist der Blick auf die einen umgebenden Erwachsenen vor allem das Sig
nal: „Nee, so nicht!“ Aber wie dies zu umgehen ist, kann einem niemand sagen. Das muss selbst herausgefunden werden. Klar, das macht Erwachsenwerden aus!
Ich bin überzeugt, dass wenn wir dieses Buch lesen, sich uns zwei Dinge eröffnen können: 1. wir können unserem suchenden Selbst begegnen und feststellen, dass dieselben Sinnfragen uns auch noch heute beschäftigen dürfen und 2. können wir Nähe und Verbundenheit zu unseren Mitmenschen empfinden und uns von eigenen Vorurteilen und Erwartungshaltungen befreien.
Antje Lampes Debütroman kommt aus meiner Sicht gesellschaftspolitisch zur absolut richtigen Zeit. Wann, wenn nicht jetzt, ist es geboten, sich wieder diffizilen und vielschichtigen menschlichen Bedürfnissen, auch in der Gemeinschaft, hinzugeben und unser vorurteilsbehaftetes Schwarz-Weiß-Denken einzustellen? Zu lange blieb „der ländliche Raum“ oder „die Provinz“ einfach nur ein beliebig und „von oben“ besetztes Schlagwort ohne Schlagkraft.
Für alle, die gesellschaftspolitisch Verantwortung tragen und sich den großen Fragen von Rahmenbedingungen für den ländlichen Raum widmen, empfehle ich dieses Buch in besonderer Weise. Es wäre gut, statt einer weiteren Statistik-Studie einer westdeutschen Universität lieber mal „Schon okay“ zu lesen und sich zu erinnern, dass Lebensrealitäten nicht nur Zahlen sondern auch Gefühle sind. Antje Lampe serviert dies auf einem Silbertablett.
Dafür habe ich große Hochachtung und Respekt.

 


 

„Schon okay“; Proof-Verlag Erfurt, 220 Seiten; 14,90 €;
Unter der ISBN 978-3-949178-20-7 überall bestellbar, aber auch direkt beim Verlag unter www.proof-verlag.de

Verwandte Nachrichten