30 Jahre Thüringer Verfassung - was sich verändern soll

Die Thüringer Verfassung enthält die gesellschaftspolitischen und rechtlichen Grundentscheidungen zur Frage:
Wie wollen und sollen wir alle gemeinsam gut miteinander leben?
Deshalb müssen wir als Gesellschaft und als Parlament in einer Demokratie immer wieder klären, ob und wie diese Inhalte und Grundentscheidungen, also die Verfassung, weiterentwickelt werden können und sollen. Nachfolgend thematisieren wir Schwerpunkte der Thüringer Verfassung, für die die Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag eine Weiterentwicklung vorsieht.

 

Menschenwürde
Dass die Menschenwürdegarantie in Grundgesetz und Thüringer Verfassung im Artikel 1 verankert ist, ist eine klare Absage an jede Form der Menschenverachtung, an jede Form von Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus. Die Menschenwürdegarantie zu verwirklichen bedeutet: Gleiche Würde und gleiche Teilhabe im Alltagsleben vor Ort für alle Menschen in Thüringen – und darüber hinaus. Die Regelungen im Grundgesetz und den Landesverfassungen bilden eine „verbindliche positive Werteordnung“, die alle staatlichen Akteur:innen aktiv zu verwirklichen haben. Diese Handlungspflicht soll künftig z.B. durch ein Staatsziel Antirassismus/Antifaschismus noch deutlicher in der Verfassung verankert werden.


Recht auf Gleichheit
In der Thüringer Verfassung sind die Gleichheitsrechte in Artikel 2 geregelt, d.h. die Gleichheit aller vor dem Gesetz und vor allem der Schutz vor unterschiedlichen Formen der Diskriminierung und Benachteiligung sowie das Recht auf Inklusion und auf gleiche Teilhabe. In Artikel 3 und 4 folgen Rechte auf individuelle Freiheit und persönliche Entfaltung. Diese Reihenfolge ist richtig so, denn das Recht auf Gleichheit bzw. gleiche Teilhabe in und an der Gesellschaft ist die notwendige Voraussetzung, um die Freiheitsrechte tatsächlich ausüben zu können.
Die Diskriminierungs- und Benachteiligungsverbote sowie die Gebote zu Nachteilsausgleichen in Artikel 2 zugunsten von Frauen, von Menschen mit Behinderungen sowie wegen Sprache, Herkunft oder Zugehörigkeit, sozialer Stellung, politischer Überzeugung, Weltanschauung oder Religion und zum Schutz der sexuellen Identität („Orientierung“) sind unverzichtbar, um eine umfassend demokratische und soziale Gesellschaft zu verwirklichen. Alle Menschen sollen „inklusiv“ im Alltag dazugehören, sich alle „auf gleicher Augenhöhe“ begegnen und respektieren – in all ihrer Unterschiedlichkeit.

 

Grundrecht auf Mobilität
Das Recht auf Freizügigkeit (Artikel 5) sollte zu einem Recht auf (nachhaltige) Mobilität weiterentwickelt werden. Wenn es bei der Freizügigkeit um die Frage der persönlichen Bewegungsfreiheit (in Thüringen) geht, gehört in Zeiten der „mobilen Gesellschaft“ und der ökologischen Transformation das Recht auf gleiche Teilhabe an der Nutzung von (öffentlichen) Verkehrsmitteln dazu. Das Grundrecht auf Mobilität muss auch die Pflicht der staatlichen Strukturen enthalten, im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge ein flächendeckend gut ausgebautes und vernetztes Mobilitätsangebot (Bahn, Bus, Straßenbahn usw.) zu schaffen und zu erhalten. Mobilität muss angesichts der zunehmenden Klima- und Umweltprobleme umfassend nachhaltig sein.


Petitionsgrundrecht
In Artikel 8 ist das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung festgeschrieben, als Kernbereich der Privatsphäre ist die Wohnung – abgesehen von wenigen mit gerichtlichen Hürden versehenen Ausnahmen – für staatlichen Zugriff absolut tabu. Das Recht auf menschenwürdiges Wohnen und eine eigene Wohnung ist zugleich ein soziales Grund- und Menschenrecht: In Artikel 16 als Grundrecht auf Schutz vor Obdachlosigkeit und in Artikel 15 als Staatsziel- also staatliche Handlungspflicht – zur Schaffung von bezahlbarem Wohnraum. Die aktuelle Krisensituation zeigt, dass zum Recht auf menschenwürdiges Wohnen untrennbar das Grundrecht auf angemessene und bezahlbare Energie(-versorgung) (in der Verfassung) dazugehört.
 

Petitionsgrundrecht und direkte Demokratie
Das Petitionsgrundrecht in Artikel 14 ermöglicht es allen Menschen, sich mit Beschwerden und Anliegen, die einen Bezug zu Thüringen haben, an öffentliche Stellen im Land zu wenden. „Hauptadressat“ ist der Petitionsausschuss des Landtags. Er kümmert sich konkret um die Beseitigung von Problemen und gibt in vielfältiger Weise Betroffenen praktische Unterstützung (- auch durch einen Härtefallfonds). Die Regelungen zur direkten Demokratie in Artikel 82 sind mit Hilfe eines Volkbegehrens (getragen von 20 Organisationen, darunter auch die PDS Thüringen, und mit 389.000 Unterschriften erfolgreich) im Jahr 2003 schon erfolgreich verbessert worden. Doch müssen weitere Teilpunkte wie die Abschaffung des sogenannten „Finanzvorbehalts“ noch durchgesetzt werden – damit Menschen in Thüringen über mehr Themen und Vorhaben direkt abstimmen können. Die LINKE hat deshalb erneut Regelungen dazu in den Landtag eingebracht.
 

Kinderrechte sichern
Mit Artikel 19 gibt es seit 1993 in der Thüringer Verfassung – anders als z.B. im Grundgesetz – schon eine eigene Regelung zu den (Grund-)Rechten von Kindern und Jugendlichen. Damit konnte diese Regelung die Weiterentwicklung der Rechte von Kindern und Jugendlichen durch die auch für Deutschland verbindliche „Kinderrechtskonvention“ der UNO mit Blick auf Persönlichkeitsentwicklung, Förderung und Mitgestaltung der Gesellschaft noch nicht berücksichtigen. Deshalb ist eine Aktualisierung des Artikels 19 geboten und ein Vorschlag der Fraktionen DIE LINKE, SPD und BÜDNIS90/DIE GRÜNEN zur Modernisierung der Vorschrift im Verfassungsausschuss in Beratung.
Die Förderung von Kindertageseinrichtungen steht als staatliche Verpflichtung ausdrücklich in Artikel 19 der Thüringer Verfassung. Für die Fraktion DIE LINKE steht fest: Bildung von Anfang an. Kitas sind Bildungseinrichtungen. Alle Kinder haben einen Anspruch darauf, durch gute Bildung die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben zu erhalten. Bildung ist ein Recht für alle Menschen, deshalb müssen alle Kinder den ungehinderten (kostenfreien) Zugang zu Kitas haben und die Kitas müssen Erziehungs- und Bildungsarbeit auf TOP-Niveau bieten können. Land und Kommunen sind in der Pflicht, dafür die optimalen Rahmenbedingungen bieten: Kitas möglichst gebührenfrei mit guten Betreuungsschlüsseln mit guten inhaltlichen Angeboten, Stärkung der Erzieher: innen-Ausbildung… Daran arbeitet R2G intensiv und ist schon deutliche Schritte vorangekommen.

 

Bildung ist Menschenrecht
„Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung“ heißt es in Artikel 20. Die Verfassung gewährleistet darin auch den freien und gleichen Zugang für alle zu den öffentlichen Bildungseinrichtungen. Die Verfassung verpflichtet zur Förderung sozial Benachteiligter (Bildung darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen) ebenso wie zur Förderung Begabter. Sie schreibt die Lernmittelfreiheit (Artikel 24) fest. In der praktischen Umsetzung bedeutet dies: Lernmittel – auch digitale – müssen kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Ausreichend Plätze an Schulen müssen vorhanden sein. Genügend Lehrer müssen da sein. Dazu muss die Ausbildung von Lehrer:innen weiter verstärkt werden und der Lehrberuf muss wieder mehr (gesellschaftliche) Wertschätzung erfahren. Die Schulen müssen noch mehr zu Orten lebendiger Demokratiebildung gemacht werden.

 

Kultur- und Sportförderung
In Artikel 30 sind das Staatsziel der Kulturförderung und die Pflicht zum Denkmal- und Kulturgüterschutz verankert. DIE LINKE tritt für ein vielfältiges Kulturleben in einer pluralistischen, d.h. „bunten“ Gesellschaft ein und für eine lebendige Kultur für alle Menschen in Thüringen und ohne (soziale) Zugangsbarrieren. Um das Staatsziel Kultur noch wirksamer im Alltagsleben vor Ort in Thüringen zur Geltung zu bringen, fordert die LINKE schon seit Langem ein Kulturfördergesetz. In Thüringen genießt der Sport und seine Förderung als Staatsziel Verfassungsrang (vgl. Artikel 30 Absatz 3). Land und Kommunen sind verpflichtet, diese Förderpflicht zu erfüllen. R2G hat deshalb z.B. das Sportfördergesetz überarbeitet und weitreichende Regelungen zur kostenlosen Nutzung von Sportstätten zugunsten von Vereinen und Initiativen geschaffen.

 

Ehrenamtliches Engagement fördern
Die Fraktion DIE LINKE setzt sich seit Langem für den Schutz und die Förderung des ehrenamtlichen Engagements in und für die Gesellschaft ein. Tausende Menschen in Thüringen sind in allen Bereichen der Gesellschaft ehrenamtlich aktiv: in Sportvereinen, in Feuerwehren, in sozialen Initiativen, in Umweltschutzprojekten, mit kulturellen Aktivitäten zur Unterstützung und Freude vieler Mitmenschen. Das ist für Gesellschaft und das Zusammenleben in eine enorme Bereicherung und für viele Menschen eine wichtige, sogar unverzichtbare Hilfe. Deshalb müssen auch der Schutz und die Förderung des ehrenamtlichen Engagements als Staatsziel Verfassungsrang bekommen. Der Verfassungsausschuss berät derzeit eine entsprechende Regelung. Zur praktischen Umsetzung dieses Staatsziels sollt es – so die langjährige Forderung der Fraktion DIE LINKE – ein Ehrenamtsfördergesetz geben, um den Organisationen und Initiativen und deren Aktiven noch mehr öffentliche strukturelle und finanzielle Unterstützung und Sicherheit für ihre langfristige Arbeit zu geben.

 

Gleichwertige Lebensverhältnisse schaffen
Das Recht auf gleiche Teilhabe aller Menschen im und am Leben in der Gesellschaft ist nur dann umfassend zu verwirklichen, wenn mit Blick auf die Entwicklung der Gesellschaft und des Landes bzw. der Regionen in Thüringen das Prinzip der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse umgesetzt wird. Deshalb fordert DIE LINKE die umfassende Verwirklichung dieses Konzepts durch Land und Kommunen, z.B. bei der Landesentwicklung. Die Landesplanung sollte noch demokratischer werden – mit mehr Bürger:innenbeteiligung. Das Prinzip der bzw. die Pflicht zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Thüringen – in Stadt und Land – sollte als neues Staatsziel ausdrücklich in die Verfassung aufgenommen werden.

 

Umwelt, Klima und Energie
Umwelt, Klima und Energie - auch verbunden mit bestimmten Nachhaltigkeitsaspekten – sind seit 1993 in Artikel 31 als Staatsziele geregelt. Für diese Regelungen ist angesichts aktuellen Entwicklungen jedoch eine inhaltliche Modernisierung sinnvoll. Dass Staatsziele weitreichende Handlungspflichten enthalten, ist am Urteil zum Klimagesetz des Bundes zu erkennen. Im Landtags steht auch ein Vorschlag von DIE LINKE, SPD und BÜDNIS90/DIE GRÜNEN zu einer neuen ausführlichen Regelung für ein ökologisches und soziales Nachhaltigkeitsgebot - entsprechend der Nachhaltigkeitsziele der UNO - in der Verfassung zur Debatte. Denn wirksame ökologische Nachhaltigkeit gibt es nur in Verbindung mit tatsächlicher sozialer Nachhaltigkeit.

 

Eigentum verpflichtet
„Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“. Diese verfassungsrechtliche „Sozialbindung des Eigentums“ ist in Artikel 34 der Thüringer Verfassung ausdrücklich festgeschrieben. Die Thüringer Verfassung enthält in Artikel 38 auch eine Festlegung auf eine bestimmte Wirtschaftsordnung: die soziale und ökologische Marktwirtschaft. Die Fraktion DIE LINKE sieht ihre Aufgabe vor allem darin diese sozialen und ökologischen Bindungen und Pflichten in der konkreten gesellschaftspolitischen Arbeit in Thüringen zu verwirklichen, z.B. durch Fördermaßnahmen für Genossenschaften in verschiedenen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft, in der Unterstützung gemeinnütziger Wirtschaftsformen –  z.B. Pflegeeinrichtungen, Dorfläden, Wohnprojekte. Die Verhinderung des Missbrauchs von Eigentumsmacht zu Spekulation und Knebelung. Entscheidend für ein an humanitären sowie sozial und ökologisch nachhaltigen Prinzipien ausgerichtetes Wirtschaften und Arbeiten: Wirtschaft ist für die Menschen da. Menschen vor Profiten. Profite nutzen, um das Allgemeinwohl zu stärken statt eigennütziges Gewinnstreben.

 

Menschenrechte der UNO und Europäischen Union
In Artikel 1 Absatz 2 schreibt die Verfassung fest, dass in Thüringen – vor Ort und konkret im Alltag- die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen (UNO) und der EU umgesetzt werden müssen. Das gilt für das UN-Kinderrechts- und UN-Behindertenrechtsabkommen genauso wie für die Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt und andere internationale Normen über Menschenrechte. Deshalb arbeiten Landtag und Landesregierung mit unterschiedlichen Instrumenten an deren konkreter Umsetzung.

 

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