Die Verteidigung der Demokratie - Abgeordneter als Wahlbeobachter in der Türkei

Parlamentsreport

„Nein, ich fliege nicht in die Türkei, um Urlaub zu machen. Es geht darum, einen Beitrag zu leisten, dass die Wahlen demokratisch sind.“ - Das war die häufigste Antwort meinerseits auf erstaunte Blicke wegen meines kurzfristigen Türkeibesuchs. Am 14. Mai fanden dort Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Erdogan und seine regierende AKP („Adalet ve Kalkınma Partisi“, rechtspopulistisch) haben das Land in den letzten Jahren weit weg von demokratischen Zuständen geführt. Mehrere Oppositionspolitiker sitzen seitdem im Gefängnis. Parteien oder deren Zulassung zur Wahl wurden verboten. Ein breites Bündnis aus verschiedenen Parteien sozialer und ökologischer Prägung hatte sich zusammengefunden, um eine weitere Amtszeit des Präsidenten zu verhindern und die Mehrheitsverhältnisse im Nationalparlament umzukehren. Dieses Bündnis hatte internationale Schwesterparteien und Gleichgesinnte eingeladen, die Wahlen zu beobachten.
Aus den Reihen der LINKEN in Deutschland reiste auf Einladung der HDP („Halkların Demokratik Partisi“, linksgerichtet) ebenfalls eine kleine Delegation an. Die HDP, die vor allem von Kurd:innen im Südosten der Türkei sowie in den Großstädten mit hohem Anteil an Kurd:innen gewählt wird, war selbst zur Wahl nicht zugelassen. Ihre Kandidat:innen standen deshalb auf den offenen Listen der YSP („Yeşil Sol Parti“, grün-linksgerichtet).

Angespannte Lage

Treffpunkt unserer Delegation aus Deutschland, Italien, Schweden und der Schweiz war Diyarbakir. Die Stadt gilt als Hauptstadt Kurdistans und kann auf eine mehrere tausend Jahre lange Geschichte zurück blicken. Vor nicht all zu langer Zeit erlebten die Einwohner:innen Unruhen und gewaltsame Zusammenstöße mit Polizei und Armee. Bei früheren Wahlen gab es Anschläge auf Wahlveranstaltungen und Büros der HDP auch in Diyarbakir. Dass die Lage noch immer nicht wirklich befriedet ist, war an der starken öffentlichen Präsenz von Polizei und Militär erlebbar. Am Samstag vor der Wahl fand die Wahlkampf-Abschlussveranstaltung des politischen Bündnisses unter entsprechend starker Polizeipräsenz statt. Der zentrale Platz, auf dem sich mehrere tausend Menschen versammelten, war komplett eingegittert. Der Zugang erfolgte über drei Einlasskontrollen, die nacheinander passiert werden mussten. Alles, was im Zweifelsfall als Waffen nutzbar wäre, wurde aussortiert - selbst Kugelschreiber. Die Straße davor war gesäumt von Wasserwerfern, Polizisten in Vollschutz und teilweise mit Maschinenpistolen ausgestattet. Die Fahrzeuge waren sämtlich gepanzert. Über dem Platz kreiste permanent der Polizeihubschrauber. Der Stimmung der Teilnehmenden tat dies keinen Abbruch.

Demokratie verteidigen

Man musste der Sprache nicht mächtig sein, um zu fühlen, mit welcher Freude und Erwartung die Menschen ihrem Recht entgegensehen, in wenigen Stunden wählen zu können. Alle einte der Wunsch danach, Präsident Erdogan abzuwählen und die regierende AKP in die Opposition zu drängen. Es ging um nichts anderes als die Verteidigung der Demokratie und der Republik. Das mag für uns merkwürdig klingen. Aber wir sehen uns keiner Situation ausgesetzt, in der die Rechte der Bevölkerung immer mehr massiv beschnitten und rechtsstaatliche Verfahren ausgehobelt werden. Gleichzeitig war in den Gesprächen mit den Menschen auch zu hören, dass sich in die Hoffnungen auch Resignation mischte. Allen war bewusst, dass bei einem erneuten Sieg von Erdogan und AKP die Verhältnisse noch schlechter werden würden. Ein Rechtsanwalt, der eigentlich in Istanbul lebte, aber wegen der Wahl nach Diyarbakir zurückgekehrt war, war sich sicher, dass es nach einem Wahlsieg von Erdogan nur eine Frage der Zeit sei, bis auch er im Gefängnis landen würde. Der Wahltag führte mich in die Provinz Sirnak im Südosten der Türkei, unweit der Grenzen zu Syrien und Irak, konkret im Osten des dortigen Kreises Uludere. Aus der Region gingen noch am Wahltag Bilder von handgreiflichen Auseinandersetzung in einem Wahllokal, wo Manipulationen der AKP bekannt wurden, um die Welt.

Begleitet wurden wir, eine Gruppe von drei LINKEN-Mitgliedern, vom Kreisvorsitzenden der HDP und einem weiteren Genossen, der seine „Guerilla“-Tracht mit Stolz trug. Die gebirgige Topographie zwischen 2.000 und 2.800 Höhenmetern prägt das Leben der Menschen. Von Dorf zu Dorf führen Straßen die Berge hinauf und in die Täler hinab. Je näher man der Grenze zum Irak kommt, um so dichter werden die Checkpoints der Polizei und das Netz an Militäreinrichtungen. Auf Wunsch unserer lokalen Begleiter zeigte ich an den Checkpoints meinen Landtagsausweis vor, der offensichtlich Eindruck machte. Und es kann schon mal passieren, dass vor einem ein Militärkonvoi anhält und Soldaten aussteigen, um zu Fuß auf die andere Straßenseite zu wechseln, wo die Grenze zum Irak beginnt.

Der HDP-Kreisvorsitzende wusste zu berichten, dass diese Soldaten in den Irak gehen, wo das türkische Militär eine 15 km breite Zone kontrolliert - angeblich zur Kontrolle von Schmugglern. Auf der Route unserer Wahllokale lag auch das Dorf Ortasu (auf Kurdisch Roboski), in dessen Nähe 2011 die türkische Luftwaffe insgesamt 34 Menschen bei einem Bombenangriff tötete, die billiges Benzin aus dem Irak geschmuggelt hatten. Vor Ort werden die Getöteten wie Helden verehrt.

Auffälligkeiten bei Wahl

Insgesamt besuchten wir neun Wahllokale, wobei wir in drei Fällen Auffälligkeiten feststellen konnten. Für die Sicherheit in der Grenzregion sorgt die Jandarma, eine paramilitärische Organisation, die dem Militär unterstellt und entsprechend ausgerüstet ist. Die Angehörigen der Jandarma waren mit teilweise starker, militärisch anmutender Präsenz vor den Wahllokalen erlebbar. In einem Wahllokal befand sich einer dieser Waffenträger im Wahlraum, wo das Tragen von Waffen untersagt ist. Von uns darauf angesprochen, kam es zu Irritationen. Im Gespräch stellte sich heraus, dass der Mann selbst von seinem Wahlrecht Gebrauch machen wollte. Um keine weiteren Nachfragen zu provozieren übergab er seine Waffen vor dem Gebäude an andere Kameraden und ging anschließend unbewaffnet zur Wahl. In einem weiteren Wahllokal kam es zu einem Einsatz der Jandarma, bei dem wir freundlich, aber bestimmt nach draußen delegiert wurden. Angeblich hatte die Wahlleiterin den Einsatz erbeten, weil sich zu viele Menschen im Wahllokal befunden hätten. Die hohe Wahlbeteiligung und das Prozedere führten dazu, dass sich vor den Wahllokalen und in den Schulen, in denen die Wahlen abgehalten wurden, teilweise längere Warteschlangen bildeten. Außerdem nutzen viele Männer und Frauen den Wahltag als Gelegenheit, sich mit anderen auszutauschen. Entsprechend dicht war teilweise das Gedränge. Den Einsatz der Jandarma vor der Wahlurne bewerte ich eher als Anzeichen der Überforderung der Wahlleiterin und nicht als Versuch, unsere Arbeit zu unterbinden. In einem dritten Wahllokal wurde uns von Beobachtern der HDP, die als externe Wahlbeobachter eingesetzt waren, weil sie nicht in den lokalen Wahlkommissionen vertreten sein durfte, berichtet, dass 700 Soldaten vor der Tür standen, die wählen wollten. Sie wurden offensichtlich kurz vor der Wahl in die Region geschickt und amtlich erfasst, um das Wahlergebnis zu beeinflussen. 700 Stimmen für die AKP bei insgesamt 2.500 Wahlberechtigten in einem Stimmbezirk regten allerdings die HDP vor Ort nicht sonderlich auf.  Der Einsatz der Wahlbeobachter:innen aus aller Welt hat dazu beigetragen, die Demokratie in der Türkei zu stärken. Die Leidenschaft der Kurd:innen, für ihre Rechte zu streiten, habe ich in ein Land mit zurück genommen, in dem eine Wahlbeteilungung von um die 30 Prozent schon gewöhnlich ist. In Uludere hat übrigens Erdogan nur knapp 24 Prozent bekommen. Die Menschen, die ich kennenlernen durfte, haben ihren Anteil dazu beigetragen, Erdogan erstmals in eine Stichwahl zu zwingen. Das erfüllt mich mich große Freude.